Essen. Zögerliche Politik, Tierschützer und nun Corona haben die Energiewende fast zum Erliegen gebracht. Die Grünen stecken in der Zwickmühle.
Wenn ein Thema die Nachrichten monatelang beherrscht, gerät so einiges in Vergessenheit, was nicht in Vergessenheit geraten sollte. Dass auch der Klimaschutz unter der Pandemie leidet und einen neuen Schub braucht, betont inzwischen auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Die Grünen ohnehin: Man dürfe über die Corona-Krise „nicht die zweite große Krise, die Klimakrise aus den Augen verlieren“, sagt Mona Neubaur, NRW-Chefin der Grünen, unserer Zeitung. Denn: „Gegen die Klimakrise gibt es keinen Impfstoff, durch sie drohen mittel- und langfristig schwerste Schäden.“
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Also zurückgespult: Der Ausbau der Windkraft ist in Deutschland bereits vor Corona zum Erliegen gekommen, auch der Photovoltaik droht ein Ausbaustopp. Die Bundesregierung hat zentrale Weichen der Energiewende nicht gestellt. Und dann bremst den Ausbau des Ökostroms auch noch eine Gruppe, die der grünen Kernklientel zuzurechnen ist: Tierschützer und Menschen, die vorgeben welche zu sein.
Warum Tierschützer gegen Windkraftanlagen kämpfen
Sie schützen den Rotmilan, die Geburtshelferkröte und das Flussneunauge. Vor den Kettensägen und Baggern, die ihre Lebensräume zerstören wollen. Egal, ob für ein neues Gewerbegebiet, ein Luxushotel – oder einen Windpark. Egal? Hört der Tierschutz auf, wo der Klimaschutz beginnt? Dürfen Ökos gegen Ökostrom kämpfen? Oder sind ihre Motive eh nur vorgeschoben?
Die wenigsten Bürger mögen Windräder oder Stromtrassen vor der eigenen Haustür, das gilt für Ur-Konservative wie bürgerliche Grüne. Nur bringen Letztere jene Partei, die sie bevorzugt wählen, in Erklärungsnöte. Denn wer beim Klimaschutz die Führungsrolle beansprucht, kann sich keine grünen Bremsspuren beim Ausbau der Erneuerbaren erlauben.
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Die Grünen geraten in Mithaftung für Bürgerinitiativen, die unter der Flagge des Natur- und Tierschutzes gegen Strommasten und Windkraftanlagen zu Felde ziehen. Nicht selten unterstützt von Umweltverbänden, die den Grünen nahe stehen. Eine Partei in der Zwickmühle. „Wer die Fesseln der Erneuerbaren lösen will, steht vor der großen Aufgabe, das Umweltrecht und den Artenschutz vor denen zu schützen, die es für ihre eigenen Partikularinteressen uminterpretieren“ – sagt Grünen-Chefin Neubaur.
Grünen-Chefin Neubaur sieht ihre Partei in der Verantwortung
Ihre Partei trage dafür eine besondere Verantwortung. Denn: „Wir wollen bis 2050 klimaneutral sein, doch der Ausbau der Erneuerbaren Energien und der Infrastruktur läuft dafür viel zu langsam.“ Und der Bau der Stromtrassen von der Nordsee etwa ins Ruhrgebiet scheitere manchmal auch an der „Nicht-in-meinem-Garten-Mentalität“.
Der Ton wird rauer. Als Demonstranten im Februar in Brandenburg gegen die dort geplante Tesla-Fabrik zu Felde zogen, platzte einem Klima-Vorkämpfer der Kragen: „Eine Kiefernholzplantage zum Kampffeld zu machen, ist absurd. Das hat mit Naturschutz nichts tun“, giftete der grüne Energieexperte Oliver Krischer. Tesla will dort künftig 500.000 Elektroautos pro Jahr bauen. Im Weg steht ein Kiefernwald, den auch örtliche Grünen-Politiker als wenig wertvolle Monokultur einstufen, der Fürstenwalder Naturschutzbund (Nabu) aber unbedingt retten will.
Klimaschützer sieht Missbrauch von Artenschutz
Krischer ist Fraktionsvize der Grünen im Bundestag, er macht sich stark für die Abschaltung der Kohlekraftwerke und den Umstieg auf Elektroautos. Er weiß nur zu gut, dass es keinen Kohleausstieg geben kann ohne massiven Ausbau von Ökostrom. Und er weiß, dass Elektroautos nur so grün sind wie der Strom, den sie tanken. Klimaschutz, Industrie und Naturschutz seien keine Gegensätze, betont er, und warf den Tesla-Gegnern vor, sie würden „das Artenschutzrecht missbrauchen“.
Dieser Vorwurf liegt immer dann nahe, wenn Bürgerinitiativen mit grünem Anstrich erkennbar mehr für den Erhalt des schönen Wohnumfelds kämpfen als für bedrohte Bäume, Vögel oder Nagetiere. So sie denn wirklich schon immer dort waren. In Kreisen jener, die als Juristen oder Gutachter mit solchen Streitfällen täglich zu tun haben, kursieren nicht nur Zweifel, sondern abenteuerliche Geschichten von ausgesetzten Tieren und solchen, die einmal am fraglichen Ort fotografiert und danach nie mehr gesichtet wurden.
Dass es nicht immer sauber zugeht bei den Bürgerprotesten, weiß auch die nordrhein-westfälische Grünen-Chefin. „Es tauchen hier und da bestimmte Kröten oder Falterarten an den fraglichen Standorten auf“, sagt Mona Neubaur. Eine Lösung wäre es, „einmal vorab den Bestand an allen fraglichen Stellen zu ermitteln und dann als Grundlage für künftige Planungen nachhaltiger Infrastruktur oder von Zukunftsprojekten festzuschreiben“. Das würde Manipulationen erschweren.
Der Konflikt rührt an die Seele der Grünen
Dass es überhaupt Konflikte zwischen Natur- und Klimaschutz gibt, ob echte oder künstlich geschürte, rührt an die Seele der Partei. Ihre Ursprünge liegen im Kampf gegen den Raubbau des Industrielandes an der Natur. Und dem Grundansinnen, die Schöpfung zu bewahren, konnten sich mit den Jahren auch immer mehr christlich-konservativ geprägte Menschen anschließen. Die schwarz-grünen Schnittmengen, aus wahlarithmetischen Gründen aktuell größer denn je, entsprangen inhaltlich der grünen Keimzelle des Natur- und Tierschutzes. Der erst seit 20 Jahren als Kernthema verfolgte Klimaschutz ist jünger, erst recht die Erkenntnis, dass er zuweilen mit dem Naturschutz über Kreuz liegen kann.
Das entzweit inzwischen selbst die großen Umweltverbände, wenn es darum geht, Prioritäten für das ein oder andere zu setzen. Der Nabu hat seinen Ursprung im Vogelschutz, entsprechend genau sieht er bei Windkraft-Projekten hin, ob sie heimische Vögel gefährden könnten. Das gilt objektiv vor allem für den Rotmilan. Der Raubvogel schaut auf Beuteflug starr nach unten – und fliegt deshalb häufiger als andere Arten blindlings in die Rotoren. Er steht zwar nicht auf der roten, aber auf der Vorwarnliste der gefährdeten Arten.
Der Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) legt seit Jahren größeres Gewicht auf den Klimaschutz. Auch er sorgt sich um den Rotmilan und fordert, bei der Standortwahl auf ihn Rücksicht zu nehmen. Doch während der Nabu Dutzende Klagen gegen Windräder unterstützt, schlägt der BUND in eine andere Kerbe. Ein eigenes Gutachten kommt zum Ergebnis, „dass der bundesweite Gesamtbestand des Rotmilans in Deutschland trotz einer Zunahme der Windräder mehr oder weniger stabil geblieben ist“.
Klimawandel bedroht Rotmilan mehr als Windräder
Größte Gefahr Die größte Gefahr für den fast nur in Deutschland vorkommenden Raubvogel ist laut BUND der Klimawandel. Der Rotmilan mag keine Hitze. Sein Verbreitungsgebiet werde sich „nach Norden verlagern und perspektivisch verkleinern“. Klimaschutz diene damit auch dem Schutz des Rotmilans. Windkraftanlagen seien nicht seine größte Bedrohung, so das Fazit.
Die Grünen müssen also auch noch zwischen Umweltverbänden vermitteln, deren Mitglieder ebenfalls zu ihrer Kernklientel zählen. Mona Neubaur tut genau das, wenn sie auf technische Lösungen setzt, „damit der Rotmilan nicht geschreddert wird“. Schon die Anpassung der Drehgeschwindigkeit einzelner Räder in einem Windpark könne viel bringen, sagt sie, mit Vogelattrappen lasse sich das testen. Entscheidend ist für sie, Anlagen zu ermöglichen, ohne den Vogelschutz zu vergessen. Denn: „Wir können es uns nicht leisten, Standorte per se auszuschließen.“
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Was aber auffällt: Auch der Nabu bekennt sich auf Bundes- und Landesebene ausdrücklich zum Ökostrom-Ausbau. Er sei „keinesfalls das Haupthindernis beim Ausbau der Windenergie“, betonte der Verband auf Anfrage. Nur einer von 200 Windkraft-Genehmigungsanträgen werde vom Nabu beklagt. Das legt umso mehr den Schluss nahe, dass bei vielen Widersprüchen nicht professionell begründeter Tierschutz das Motiv ist, sondern Anwohner-Interessen. Denn allein in NRW waren zuletzt noch knapp 60 Klagen gegen Windkraftanlagen anhängig. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2019 wurden nur 45 Anlagen gebaut.
Ganz so, wie es RWE-Chef Rolf Martin Schmitz sagt: „90 Prozent der Deutschen sind für den Ausbau der Erneuerbaren. Aber wenn niemand von zu Hause aus ein Windrad sehen will, wird es schwer in einem dicht besiedelten Land wie unserem.“ Grünen-Lieblingsfeind RWE will sich nach dem Ausstieg aus der Braunkohle zu einem der weltgrößten Ökostromanbieter mausern, plant die meisten seiner Windkraftprojekte aber im Ausland. Vor allem wegen der heftigen Bürgerproteste.
Ausbau von Windkraft in NRW nahezu gestoppt
Tatsächlich ist der Ausbau der Windenergie in NRW und Deutschland praktisch zum Erliegen gekommen. Den Solarkraftanlagen droht dasselbe, der Förderdeckel von 52 Gigawatt ist bald erreicht. Seine Abschaffung hat der Bundesrat bereits vor einem halben Jahr beschlossen, was fehlt, ist der Vollzug durch die Bundesregierung. Erst vergangene Woche haben die Energieminister der Länder den Bund aufgefordert, das jetzt endlich zu tun. Ebenso fordern sie parteiübergreifend, den Ausbau der Windenergie und der Netze neu anzuschieben. Ihre gemeinsame Sorge: Die Corona-Krise werde den ohnehin lahmenden Ausbau der Erneuerbaren „ohne notwendige Gegenmaßnahmen“ weiter verlangsamen.
Um die politischen und bürgerlichen Bremsen zu lösen, hält NRW-Grünen-Chefin Neubaur für vorrangig, dem Klimaschutz, anders als Schwarz-Gelb es in NRW mache, ein positives Zukunftsbild zu geben: „Wir wollen als Industrieland klimaneutral Wohlstand generieren, wollen neue Berufsfelder für die jungen Generationen schaffen und NRW zur ersten klimaneutralen Region in Europa machen“, sagt sie. Deshalb lohne es sich, für die Akzeptanz neuer Stromleitungen und Windräder zu kämpfen.
Auch NRW-Regeln behindern den Bau neuer Windräder
Auch müsse die Bürgerbeteiligung bei solchen Projekten einfacher werden, etwa als Online-Beteiligung. Als Vorbild nennt Neubaur Baden-Württemberg, das eigens dafür eine Staatsrätin mit eigenem Budget und Personal eingesetzt hat. Sie stelle das Gelingen eines Projektes in den Vordergrund, was gute Erfolge zeige. Auch könne mehr Akzeptanz über den Geldbeutel erreicht werden, etwa über eine Beteiligung an Bürgerwindkraft-Anlagen als Alternative zum Sparbuch.
Dass der Ausbau der Windkraft in NRW stocke, liege ohnehin zuvorderst an der schwarz-gelben Landesregierung, die mit ihrem 1500-Meter-Abstandsgebot den Zubau gestoppt habe. Das treffe auch die heimische Industrie und gefährde Arbeitsplätze: „Wer sich jetzt nicht für die Windkraft einsetzt, riskiert, dass Zulieferbetriebe der Windkraft über die Wupper gehen“, sagt Mona Neubaur.
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