Essen. Corona kippt auch den 1. Mai, zumindest als große Kundgebung. Dabei sind gerade jetzt so viele Arbeitsplätze in Gefahr wie selten zuvor.

Der 1. Mai hat eigentlich zwei Gesichter: das verkaterte derer, die in ihn hineingetanzt sind – und das entschlossene jener, die auf der Kundgebung die Fahne der Arbeiter hochhalten. Gefeiert wird der Tag der Arbeit oder einfach, dass man deshalb nicht arbeiten muss. Das Coronavirus macht diesmal beides zunichte – Maifeiern wie große Maikundgebungen. Wer tanzen wollte, musste den Wohnzimmertisch zur Seite räumen, wer für seine Rechte als Beschäftigter demonstrieren will, den Computer einschalten.

Erste Absage aller Kundgebungen seit 1949

Der Deutsche Gewerkschaftsbund musste zum ersten Mal seit seiner Gründung vor 71 Jahren auf Massenveranstaltungen zum Tag der Arbeit verzichten, überträgt Reden und Musik im Internet, unter dem sinnigen Motto: „Solidarisch ist man nicht alleine!“ Wie sehr der Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen fehlen würde, wenn er dereinst verloren ginge, wusste schon der erste DGB-Chef: „Es ist immer und einzig die menschliche Arbeit, durch welche die Gemeinschaft lebt“, sagte Hans Böckler – auf dem Gründungskongress des DGB am 12. Oktober 1949.

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Jede abgesagte Veranstaltung ist für Organisatoren und verhinderte Teilnehmer traurig, doch für die Mai-Kundgebungen der Gewerkschaften ist es besonders bitter, weil das Virus nicht nur die Leben vieler Menschen gefährdet, sondern auch Zigtausende Arbeitsplätze. Selten in der Geschichte der Bundesrepublik wäre es so gerechtfertigt gewesen, für den Erhalt guter Arbeit zu kämpfen. Denn diese Krise droht ein Vielfaches an Arbeitsplätzen zu vernichten als die große Finanz- und Wirtschaftskrise. 2009 fielen bundesweit rund 160.000 Stellen weg, 2010 sank die Arbeitslosigkeit bereits wieder unter Vorkrisenniveau. Diesmal rechnet das IAB, Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit, mit einem Anstieg um rund 700.000 auf mehr als drei Millionen.

Mehrere kleinere Kundgebungen in NRW-Städten genehmigt

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Doch nicht auf die Straße und Seit an Seit auf Sternmärschen für die Rechte der Beschäftigten demonstrieren zu können, gehört zum Wesen dieser Pandemie. Der DGB und seine Gewerkschaften wollen das auch gar nicht, weil für sie die Gesundheit der Menschen vorgeht. Trotzdem Demos gegen die virologische Vernunft vor Gericht durchzusetzen, bleibt damit der kommunistischen MLPD und Splittergruppen vorbehalten, die am Freitag etwa in Witten, Bochum und Herne demonstrieren will.

Mehrere Kommunen in NRW haben unter Auflagen kleinere Kundgebungen erlaubt: In Düsseldorf finden laut Polizei allein elf Veranstaltungen statt. Kundgebungen gibt es unter anderem auch in Dortmund, Wuppertal oder Duisburg. In Köln gibt es nach Angaben eines Sprechers 17 Kundgebungen. Pro Kundgebung hat die Stadt maximal 20 Teilnehmer genehmigt. In mehreren Fällen setzten die Anmelder die Genehmigungen gerichtlich durch. So entschied etwa das Verwaltungsgericht Düsseldorf am Donnerstag, dass zwei Mai-Kundgebungen in Düsseldorf und Duisburg unter strikten Auflagen erlaubt sind. In Essen dürfen zwei Kundgebungen abgehalten werden, entschied das Oberverwaltungsgericht NRW am Donnerstagabend.

DGB-Motto: Mit Anstand Abstand halten

„Solidarisch ist man nicht alleine“ lautet das sinnige Mai-Motto des DGB in diesem Corona-Jahr.
„Solidarisch ist man nicht alleine“ lautet das sinnige Mai-Motto des DGB in diesem Corona-Jahr. © dpa | Bernd Thissen

Die großen Aufmärsche aber fallen in Corona-Zeiten weg. Dass Solidarität in diesen Wochen Distanz erfordert, ist ein Paradoxon, das der DGB akzeptiert, wenn er propagiert: „Mit Anstand Abstand halten.“ Anja Weber, DGB-Vorsitzende in NRW, betont, den Verzicht auf die Demos „haben wir uns nicht leicht gemacht“. Einen Vorteil habe die Verlagerung der Reden, Diskussionen und Konzerte ins Internet aber: „Man sieht nicht nur die Mai-Demo in Oberhausen oder Bochum, sondern in unserem zentralen Livestream das gesamte Bundesgebiet, alle Gewerkschaften und alle Branchen.“ Die Kraft der Gewerkschaften werde deutschlandweit an einem Punkt gesammelt. „Und nächstes Jahr sehen wir uns dann hoffentlich alle auf den Straßen und Plätzen wieder“, hofft Anja Weber.

Trotzdem tut es vielen weh, nicht zusammen raus zu können, bekennt etwa Knut Giesler, Chef der IG Metall in NRW. Ihm blute das Herz, denn der Tag der Arbeit sei „ein ganz wichtiger Baustein unserer gewerkschaftlichen DNA“. Auch für ihn bringt die Krise aber zugleich Positives zum Vorschein: „Wir erleben gerade nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in den Betrieben ein großes solidarisches Miteinander.“

IG Metall sieht große Solidarität in dieser Krise

Das gilt im Kleinen wie im Großen: Wie 2009 hat die IG Metall in NRW einen Krisentarifabschluss mit den Arbeitgebern erzielt, der vor allem dem Erhalt der Arbeitsplätze dient. Das werde in vielen Unternehmen mit Leben gefüllt, etwa mit Betriebsvereinbarungen, „die Härtefälle beim Kurzarbeitergeld dadurch absichern, indem andere, die es nicht so hart trifft, verzichten“. Es gebe aber auch viel kollegiale Unterstützung für Beschäftigte, die ihre Kinder zu Hause betreuen müssten. „Man rückt zusammen. Solidarität wird gelebt. Das ist ein positiver Effekt von Corona“, betont Giesler.

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Was bleibt, ist das ungute Gefühl, am 1. Mai 2021 weniger Arbeitsplätze verteidigen zu können. Die Prognosen sind düster, die Aussichten der Unternehmen in vielen Branchen ebenso. Viele geben an, trotz Staatshilfen und Kurzarbeit nicht mehr lange durchhalten zu können. Die Folgen der Corona-Krise dürften aber länger andauern als vor zehn Jahren die der weltweiten Finanzkrise. Auch die IG Metall betont, in einer aktuellen Befragung hätten neun von zehn Betriebsräten erklärt, noch sei niemand wegen Corona entlassen worden. Doch zugleich beklage bereits jeder vierte Betrieb akute oder binnen sechs Wochen drohende Liquiditätsengpässe.

Konjunkturprogramme gefordert

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände fordern deshalb einhellig Konjunkturprogramme, um die Unternehmen mit ihren Beschäftigten nicht nur durch die akute Corona-Phase zu retten, sondern danach auch wieder so anzuschieben, dass sie keine irreparablen Folgen erleiden. Wie 2008/09 soll es also der Staat richten, seinerzeit schrieben die Abwrackprämien für Autos Schlagzeilen, ähnliches wird von der Autoindustrie nun wieder gefordert.

Die Gewerkschaften setzen aber nun darauf, bei den Konjunkturhilfen den Umbau zu einer klimaschonenden Wirtschaft gezielt zu fördern. DGB-Chefin Weber etwa sieht darin eine Chance für die Schaffung neuer Arbeitsplätze und nennt als Beispiel energieschonende Gebäudesanierungen. Auch Metaller Giesler sieht den Sinn eines Konjunkturprogramms darin, „die ökologische Transformation der Industrie“ voranzutreiben.

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Vielleicht klingt es einfach besser, den Klimaschutz in dieser Zeit nicht ganz zu vergessen. Vielleicht haben die Gewerkschaften aber auch einfach erkannt, dass es diesmal noch wichtiger sein wird als 2009, Staatshilfen in Branchen und Arbeitsplätze zu lenken, die in der Zukunft am ehesten Bestand haben werden. Die Arbeitswelt wird sich verändern, Digitalisierung, Energiewende und Klimaschutz werden Jobs vernichten und neue schaffen. Das waren in den vergangenen Jahren die Themen zum 1. Mai und sie sind wegen der Corona-Krise nicht aus der Welt.