Essen. Das Ruhrgebiet steht vor einem Schicksals-Jahrzehnt: Seine Industrie muss weg von der Kohle und grün werden. Der nächste Strukturwandel steht an.
Ein Knall, ein Fall: das Kesselhaus kippt, eine riesige Staubwolke macht sich über Dortmund-Mengede breit. Wenig später folgen Kühlturm und Schornstein, das Steinkohlekraftwerk Gustav Knepper an der Stadtgrenze zu Castrop-Rauxel ist am 17. Februar 2019 endgültig Geschichte. Strom liefert es schon seit fünf Jahren nicht mehr, steht seitdem nutzlos rum. Nun bleiben Tausende Tonnen Schutt und die große Frage: Wann entstehen hier endlich neue Arbeitsplätze – und was für welche? Sie steht stellvertretend für das gesamte Ruhrgebiet. Die Region braucht im neuen Jahrzehnt keine weiteren Industriemuseen. Sondern neue, grüne Industrien.
Wer immer auch in den vergangenen Jahren den hiesigen Strukturwandel für weit gediehen bis fast gemeistert betrachtet hat, sieht sich anno 2019 eines Besseren belehrt. Dem 2018 vollzogenen Aus der Zechen folgt das Aus der Kohlekraftwerke bis 2038, die RWE, Steag und Uniper betreiben. Bei Siemens in Mülheim und bei MAN Diesel & Turbo in Oberhausen bauen sie Turbinen und Kompressoren für konventionelle Kraftwerke, die es so bald wie möglich nicht mehr geben soll. Und die Stahlindustrie von Thyssenkrupp steht mit dem Konzern einmal mehr am Scheideweg und dort so nah wie nie am Abgrund.
Fortschritte und Chancen sind groß
Der bisherige Strukturwandel im Ruhrgebiet war eher ein Strukturwechsel. Die Industrie ist großteils gegangen, der Dienstleistungssektor gewachsen. Er beschäftigt heute vier von fünf Berufstätigen im Ruhrgebiet, mehr als im Rest des Landes. Dafür haben sich hiesige Regionalpolitiker jahrzehntelang gefeiert. Und dabei verdrängt, dass der Niedergang der Industrie bis heute die offene Flanke der Region und verantwortlich für ihre hohe Arbeitslosigkeit ist.
Dabei sind die Fortschritte unbestritten, die Chancen groß. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, auch in diesem Jahr sind Zehntausende neue Arbeitsplätze entstanden im Ruhrgebiet. Auf dem Opel-Areal in Bochum arbeiten heute doppelt so viele Menschen wie vor der Werksschließung 2014. Auf Knepper, zwischen dem Dortmunder Westen und Castrop-Rauxel, soll ein Gewerbegebiet entstehen. Die Freiheit Emscher, ein 1700 Hektar riesiges früheres Bergbau-Gelände zwischen Essen und Bottrop, harrt ihrer Bebauung mit Wohnungen, Büros, Gewerbe und Industrie.
Nur fehlen die Flächen für Neuansiedlungen schon heute. Die Wirtschaftsförderer in Städten wie Duisburg, Bottrop, Mülheim, Essen und Witten müssen regelmäßig ansiedlungswilligen Unternehmen absagen, weil sie für ihre Bedürfnisse keine passenden Flächen mehr haben. Und damit potenzielle neue Arbeitgeber weiterziehen lassen. Die wenigsten von ihnen werden warten, bis eines der vielen Areale endlich aufbereitet ist, das schon lange nicht mehr von der Montanindustrie genutzt wird, aber wegen seiner Altlasten auch noch lange nicht neu genutzt werden kann. Die einstige, für das Ruhrgebiet folgenschwere Bodensperre, mit der Bergbau und Schwerindustrie bis etwa 1980 neue Industrien ferngehalten haben, wirkt damit faktisch bis heute nach.
Projekte für die kommenden Jahrzehnte
Auf Knepper werden der Rückbau des Kraftwerks und anschließend die Bodensanierung auch das neue Jahr noch komplett in Anspruch nehmen. Für andere stillgelegte Kraftwerks-Standorte gibt es noch gar keine Pläne, von den noch laufenden, aber absehbar dem Kohleausstieg zum Opfer fallenden Standorten ganz zu schweigen. Und die Freiheit Emscher am Rhein-Herne-Kanal ist ein Projekt, das in den 20er-Jahren beginnt und nicht vor 2040, eher 2050 fertig sein wird.
land nrw- konzerne müssen kohlekraftwerke selbst abreißenBeschleunigen lassen sich diese Projekte kaum, bei der Flächensanierung verbieten sich Oberflächlichkeiten von allein. Wichtiger wäre es, all die anderen noch nicht nutzbaren Areale in Angriff zu nehmen. Dafür brauchen die Kommunen Unterstützung. Für die Herrichtung der Steinkohlekraftwerks-Standorte hat der Bund Hilfen zugesagt. Das Land vertritt zudem die Auffassung, dass die Betreiber der Kraftwerke selbst für den Rückbau verantwortlich sind. Ob sich das durchsetzen lässt, steht zu bezweifeln.
Ob sich das Ruhrgebiet in Zeiten der Digitalisierung, Energiewende und des Kampfes gegen die Klimakatastrophe noch zu einer Gewinnerregion wandelt, wird indes nicht die schiere Menge der neuen Arbeitsplätze entscheiden, sondern deren Qualität. Bisher steht sich das Revier bei der Zukunftsplanung selbst im Weg, hat es in zehn Jahren nicht geschafft, den Regionalplan Ruhr als ersten eigenen Masterplan seit 50 Jahren auf die Beine zu stellen. Und wie die bestehenden Unternehmen für die Zukunft gerüstet sind, darüber hat das Jahr 2019 mehr neue Fragen aufgeworfen als beantwortet, vor allem in der Stahlindustrie und in der Energiebranche.
Was macht der Kohleausstieg mit RWE und Eon?
Die Entscheidung, spätestens 2038 das letzte Kohlekraftwerk abzuschalten, soll die Energiewende beschleunigen. Was macht das mit den beiden Essener Dax-Riesen Eon und RWE? Was mit den Kohlekraftwerksbetreibern Uniper und Steag? Für das rheinische Braunkohle-Revier gibt es detaillierte Zukunftspläne, Betreiber RWE bleibt hier die Rolle des Abwicklers, der sich den Ausstieg möglichst teuer bezahlen lassen will. Die Gespräche darüber werden im Januar fortgesetzt, RWE-Chef Rolf Martin Schmitz verhandelt hart – auch um mehr in die Zukunft investieren zu können. Mit der Übernahme und Zusammenlegung der Ökostrom-Sparten von Eon und Innogy hat RWE zwar ein Zukunftsgeschäft. Aber deren Wachstum dürfte vor allem im Ausland stattfinden und kaum in der Heimatregion.
Der Essener Steag-Konzern steht vor der gleichen Herausforderung, ihm dürfte das mangels Reserven noch schwerer fallen. Das gilt auch für den Düsseldorfer Stromerzeuger Uniper. Eon blickt als Endkunden-Versorger und Netzbetreiber noch mit den wenigsten Sorgen in die Zukunft. Die dezentrale Stromversorgung hat das Zeug, viele gute neue Arbeitsplätze hervorzubringen.
Der grüne Hochofen als Hoffnungsträger
Thyssenkrupp stellt die Abkehr von der Kohle an mehreren Ecken vor große Herausforderungen, was inmitten einer Konzernkrise mangels Investitionsmitteln zum Problem wird. Die Autosparte muss auf die Mobilitätswende zum Elektroauto reagieren, der Industrieanlagenbau sich auf neue Anforderungen in der Produktion einstellen. Vor allem aber geht es beim Stahl um die Überlebensfrage, ob er künftig grün gekocht werden kann. Dass es geht, hat der Traditionskonzern schon bewiesen – und erstmals Wasserstoff statt Kohle in einen Hochofen eingeblasen.
weltpremiere bei thyssenkrupp- stahl mit wasserstoffDoch klar ist schon heute: Die Stahlproduktion auf Wasserstoff umzustellen und irgendwann klimaneutral betreiben zu können, bedarf immenser Investitionen. Die wird kein deutscher Stahlkonzern alleine stemmen können, ein um seine Existenz kämpfender wie Thyssenkrupp schon gar nicht. Mit politischer Unterstützung, sprich neuen Subventionen hofft der Konzern, dies zu schaffen. Als Vorreiter böten sich für Thyssenkrupp damit auch weltweit neue Marktchancen. Eine noch sehr vage Hoffnung, aber eine Hoffnung. Dass die Schwerindustrie über kurz oder lang aus dem Ruhrgebiet verschwinden werde, wie manch Politiker zu wissen glaubt, ist längst nicht ausgemacht. Wünschen sollte sich das niemand.top-berufe von morgen- die größten digitalisierungs-gewinner
Ungebrochen ist das Wachstum der Logistik im Ruhrgebiet. Sie wird aber mehr als andere Branchen mit zunehmender Automatisierung noch weniger Menschen als heute schon in ihren riesigen Hallen beschäftigen. Das vollautomatische Hochregal-Lager ist keine Zukunftsvision mehr. Zukunft haben jene Arbeitsplätze, die derlei Lösungen entwickeln. Und hier kommt tatsächlich die gute Nachricht zum Schluss: Das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit sagt dem Ruhrgebiet für die Jahre bis 2035 voraus, in den verschiedenen IT-Branchen mehr neue Arbeitsplätze zu schaffen als andere Regionen.