Essen. Industrie und Verfassungsschützer in Deutschland glauben, dass die USA verstärkt deutsche Unternehmen wie den Windkraftanalagen-Hersteller Enercon in Magdeburg belauscht. Doch China und Russland sind noch aktiver bei der Spionage.

Spionieren? Unter Freunden tut man das nicht, sagt Oliver Grün. Er ist Präsident des Mittelstandsverbandes der IT-Industrie (BITMi). Aber jetzt kritisiert er die Späher des US-Geheimdienstes und fordert Konsequenzen: „Wir müssen uns aus der Internet-Umklammerung der USA lösen.“

Heute ist in der Wirtschaft keiner mehr wirklich nur Freund. Die Wirtschaftsspionage in Deutschland nimmt rapide zu – im Schnitt um zehn Prozent im Jahr. Jedes zweite deutsche Industrieunternehmen ist 2012 mutmaßlich Opfer von Hackern und Spionen geworden. Der Schaden wird zwischen vier und zwanzig Milliarden Euro jährlich geschätzt – genau weiß man das nicht, denn angegriffene Firmen halten sich gerne bedeckt und melden auch nur jede fünfte Tat der Spionageabwehr.

Immer noch am meisten sind Chinesen und Russen die Bösewichte, die mit USB-Sticks Rechner abgreifen, wissbegierige Praktikanten schicken – 80 000 alleine kommen aus China – und mit hübschen Praktikantinnen und Mata-Hari-Methoden nach Informationen jagen. Doch schon jeder Vierte der entdeckten Angriffe ist in Amerika gestartet worden, ermittelten Experten des Sicherheitsunternehmens Corporate Trust. Die USA setzen viel Elektronik ein. „Social Engineering“ nennen sie das.

Das Smartphone in der Keksdose

Die Geschichte des transatlantischen Geheimkrieges ist lang und sehr bunt: US-Spione haben als Botschafter getarnt im Bundeswirtschaftsministerium vorgesprochen, Airbus zugunsten von Boeing­ ausgehorcht, gleich mit zwei Dutzend Mitarbeitern als vermeintliche Marktforscher eine deutsche Optik-Firma ausgespäht und den früheren VW-Chef Ignacio Lopez belauscht, weil sie fürchteten, er könne Daten seines alten Arbeitgebers General Motors an die Wolfsburger weitergeben.

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Übel mitgespielt wurde Aloys Wobben. Der deutsche Windkraft-Papst („Enercon“) baut Windräder und wurde Ziel einer Attacke der NSA. Sie schöpfte Daten in der Auricher Konzernzentrale ab und gab die an Kenetech weiter, Wobbens US-Konkurrenten. Die kopierten Ideen ließ man sich patentieren. Das half wenig: Enercon geht es gut. Kenetech ist weg vom Markt.

Angesichts solcher Erfahrungen ist in den Chefetagen deutscher Unternehmen jetzt erhöhte Aufmerksamkeit angesagt. „Wir setzen aktuelle Sicherheits- und Abwehrsysteme und umfangreiche Datensicherungsverfahren ein, um den bestmöglichen Schutz von Informationen sicherzustellen“, sagt Ruben Thiel vom Essener Chemiekonzern Evonik. Wie das geht, ist Verschlusssache. Nachzulesen ist aber, dass Evonik-Manager schon vor Längerem Keksdosen genutzt haben. Mobilfunkgeräte, die im Blech verschwinden, sind für unbefugte Lauscher unerreichbar.

Mittelstand ist am häufigsten von Spionage betroffen

„Beunruhigend“ findet der Bundesverband der Deutschen Indus­trie die Meldungen über die groß angelegten US-Spähaktionen, und auch Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen glaubt, „dass ausländische Nachrichtendienste den gesamten Werkzeugkasten einsetzen“, um ans Know-how der Deutschen zu gelangen.

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Die Daten von Corporate Trust zeigen: Vertrieb sowie Forschung und Entwicklung sind die wesentlichen Späh-Ziele. Die Schadenshäufigkeit steigt steil an. Und nicht die Großen der Branchen sind oft Opfer, sondern „der Mittelstand ist am häufigsten von Spionage betroffen“.

Aber bis Sensibilität für neue Gefahren entsteht, braucht es erfahrungsgemäß viel Zeit. Noch im Januar 2001, als die 3200 Köpfe starke Ökonomie-Elite des Globus wie jedes Jahr zum Weltwirtschaftsforum in Davos zusammenkam, drangen Hacker ins Konferenzsystem ein. Sie räumten 1400 Kreditkarten- und Handy-Nummern der Teilnehmer ab. 4000 Schweizer Polizisten merkten – nichts.