Paris. . 50.000 Arbeitsplätze baut die französische Wirtschaft jedes Jahr ab, die Arbeitslosigkeit stieg in den vergangenen zwölf Monaten um elf Prozent. Besonders hart trifft es die Auto-Industrie. Ein Werk des Herstellers PSA Peugeot-Citroën im Pariser Osten ist Sinnbild für die Talfahrt.

Die rasante Talfahrt der französischen Automobilindustrie hat einen Namen: Aulnay-sous-Bois. Ein Werk, über das das Todesurteil längst gesprochen ist. Wenn die Bänder hier 2014 abgestellt werden, geht eine glorreiche Epoche zu Ende. Ausgerechnet Aulnay-sous-Bois. Der Vorzeigebetrieb, auf den sie im einstmals blühenden PS-Imperium von PSA Peugeot-Citroën immer so stolz waren.

„La Déesse“, die legendäre Göttin „DS“ mit der hydropneumatischen Federung, lief hier einst vom Band. Eine Kult-Limousine, die französische Automobilgeschichte geschrieben hat und in keinem Belmondo-Film der sechziger und siebziger Jahre fehlen durfte. Dann das Erfolgsmodell Peugeot 205 und der 106er. Über eine Million Mal der „AX“, ein Nachfolger der berühmten Ente. Der „Xsara“.

„Wir waren 1973, als der Betrieb errichtet wurde, das modernste Automobilwerk in Europa“, sagt der Montagearbeiter Julien Méléard. Rentabel und exzellent, das war einmal. Heute geht bei den 2500 Beschäftigten eine quälende Angst um: die Angst vor Arbeitslosigkeit.

Ein Mitarbeiter im Werk Aulnay-sous-Bois. Bild: afp
Ein Mitarbeiter im Werk Aulnay-sous-Bois. Bild: afp

Schon etliche Male ist Julien Mélárd bei seiner Arbeitsagentur gewesen, und jedes Mal ist er mit hängenden Schultern wieder hinausgegangen. „Die Arbeitslosigkeit in Frankreich ist katastrophal“, sagt der 41-Jährige, und fügt deprimiert hinzu: „Für Leute wie mich ist der Arbeitsmarkt leer gefegt.“

Fast 3,2 Millionen Franzosen haben keine Arbeit, davon suchen zwei Millionen bereits seit einem Jahr einen Job. Monat für Monat verlieren Zigtausende ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld und werden ein Fall für die Sozialhilfe. Die Spirale geht erbarmungslos nach unten.

Lage erinnert an Aufstand der Bergleute Anfang der siebziger Jahre

Einen bitteren Vorgeschmack auf die trostlose Zeit nach der Werksschließung gibt’s in Aulnay bereits heute. Das Werk vor den Toren von Paris wird bestreikt. Es ist längst ein Marathon-Arbeitskampf, einer, der wohl auch Geschichte schreiben wird. Schon jetzt blickt ganz Frankreich nach Aulnay, wo einst 10.000 Menschen an den Bändern standen.

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„Wir streiken schon seit drei Monaten und machen weiter“, sagt Philippe Julien trotzig. Mit über 30 Dienstjahren gehört der Arbeiter und Gewerkschafter zum Inventar von Aulnay, jetzt zählt der Sekretär der linken CGT zu den Anführern des Streiks. Manche vergleichen die Arbeitsniederlegung in Aulnay bereits mit dem heroischen Aufstand der Bergleute Anfang der siebziger Jahre.

In der riesigen Montagehalle, wo sie normalerweise in zwei Schichten 700 Autos vom Typ Citroën C3 zusammensetzen, herrscht seit Monaten eine gespenstische und beklemmende Stille. Es ist Autobau in Zeitlupe. „An manchen Tagen passiert hier gar nichts, jetzt laufen allerhöchstens 50 Wagen vom Band“, sagt der Gewerkschafter Julien. Streikende und Arbeitende gehen sich tunlichst aus dem Weg. Die einen sitzen am Pausentisch der Endmontage und vertreiben sich die Zeit beim Kartenspiel, die Leitenden Angestellten, etliche von ihnen sind von anderswo, sind an ihren gelbe Warnwesten.

Gewerkschafter lehnen jede Form von Mitverantwortung ab

Ein tiefer Riss geht durch die Belegschaft und die Luft scheint elektrisch geladen zu sein. „Manchmal genügt ein winziger Funke und es knallt“, sagt einer der Streikenden. Wie in den ersten Tagen des Streiks. Da ging Mobiliar zu Bruch und auf die Männer mit den gelben Westen warfen sie Eier und Schrauben. Etwa 250 haben die Arbeit dauerhaft niedergelegt und weitere 400 Nicht-Streikende weigern sich aus Solidarität, andere Arbeiten zu erledigen. „Das reicht, um den ganzen Betrieb zu lähmen“, sagt der Sekretär der CGT.

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Gerne würde die sozialistische Regierung in Paris den sozialen Dialog im Land voranbringen. Und damit die ganze Wirtschaft. Ein wenig so, wie es der Nachbar von der anderen Seite vormacht: mit seinem seit Jahrzehnten bewährten Erfolgsmodell aus Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie.

Doch in den französischen Betrieben gehen die Uhren seit jeher anders. Der Boss gibt gerne den Herrn im Hause, dafür sehen die Gewerkschafter in ihm einen notorischen Ausbeuter. Und lehnen – non, merci - jegliche Form der Mitverantwortung im Betrieb dankend ab. Lieber rufen sie den Staat um Hilfe, wenn die Karre im Dreck steckt: den gütigen, beschützenden und helfenden Staat. Doch wenn der nicht kann, ist die logische Konsequenz eben diese: Klassenkampf à la française.

PSA Peugeot-Citroën Sinnbild für Niedergang der französischen Wirtschaft

Julien Méléard ist verheiratet, hat einen Sohn (16) und eine Tochter (13). Mitten im Streik hat ihn die Firma rausgeworfen. „Ich soll in eine Rempelei verwickelt gewesen sein, aber das stimmt nicht“, beteuert er. Auch Abdelghani, den Trommler, haben sie an die Luft gesetzt, weil er angeblich so viel Krach gemacht hat. Insgesamt gab’s vier fristlose Kündigungen. Heute ist ein CGT-Sekretär in die Firmenzentrale nach Paris gefahren, um die PSA-Chefs dazu zu bewegen, die Rauswürfe zurückzunehmen. Vergeblich, wie sich später herausstellt.

Normalerweise bringt Julien Méléard 1850 Euro netto nach Hause. Vor einem Jahr hat er sich den Traum seines Lebens erfüllt und 30 Kilometer entfernt, in Chanteloup-en-Brie, ein schmuckes Häuschen gekauft. Es könnte ein Albtraum werden. „Wenn ich arbeitslos werde, können wir die 1400 Euro fürs Darlehen nicht mehr aufbringen“, sagt Julien. „Immerhin hat meine Frau einen Job, sonst wär’s jetzt schon zappenduster.“

PSA Peugeot-Citroën ist ein Sinnbild für den Niedergang der französischen Wirtschaft, der zweitgrößten Volkswirtschaft in Europa. Eine, die Jahr für Jahr 50.000 Jobs abbaut und dabei ist, sich zu deindustrialisieren. Solange das Geschäft daheim und vor der europäischen Haustür brummte, haben die Franzosen lukrative Wachstumsmärkte in Brasilien, China und Indien sträflich links liegen lassen. Eine Sünde, für die auch PSA jetzt hart bestraft wird. Der Massenhersteller hat letztes Jahr einen Rekordverlust von fünf Milliarden Euro eingefahren und muss in Frankreich 10.000 Jobs abbauen. Auch Renault tritt auf die Bremse und streicht 8000 Arbeitsplätze.

Arbeitslosigkeit stieg in letzten zwölf Monaten um fast 11 Prozent an

Die Gesundung der Wirtschaft und der Abbau der Rekord-Arbeitslosigkeit zählen zu den dringlichsten Vorhaben von Staatspräsident François Hollande. Es ist eine Herkulesaufgabe. „Ich werde die Kurve umkehren“, hat er neulich in einem Fernsehinterview zum wiederholten Male versprochen. Doch in den vergangenen zwölf Monaten ist sie um fast 11 Prozent angestiegen. Der Präsident kriegt die Arbeitslosigkeit einfach nicht in den Griff. Die Folge: Noch nie sind die Sympathiewerte eines Präsidenten so dramatisch tief gesunken wie die des Sozialisten. Der neue Tiefpunkt: 26 Prozent.

So lange in Aulnay ein Ende der Arbeitsniederlegung nicht absehbar ist, üben sich die Streikenden in bekannten Durchhalteparolen. Etwa: Wer kämpft, kann verlieren, aber wer nicht kämpft, hat schon verloren. Weil Arbeitskämpfe in Frankreich einer Sache der Belegschaften ist, müssen sich die Streikenden mit Spenden über Wasser halten. Bei den notorisch klammen Gewerkschaften ist nichts zu holen. Prall gefüllte „Kriegskassen“, wie sie in Deutschland üblich sind, gibt’s in Frankreich nicht. „Am Samstag werden wir an der Gare de l’Est sammeln gehen“, sagen sie.

IWF schaut besonders besorgt nach Frankreich

Dass sie das Todesurteil für Aulnay wirklich abwenden können, glauben nur noch die wenigsten. Jetzt geht’s eher darum, so viele betriebsbedingte Kündigungen wie möglich zu vermeiden oder die Abfindungen in die Höhe zu treiben.

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Die PSA-Bosse wollen etwa 1000 Beschäftigten einen Ersatzarbeitsplatz in einem anderen Werk anbieten, zum Beispiel im 50 Kilometer entfernten Werk Poissy. Aber Etliche winken ab. Die Jobs dort seien schlechter bezahlt und für viele sei die Arbeitsstelle unzumutbar weit entfernt. Julien Méléard müsste sich künftig 80 Kilometer durch das Verkehrschaos des Großraums Paris quälen, vom äußeren Osten in den äußeren Westen der Île de France. Zumutbar? „Nein“, erwidert er kopfschüttelnd.

Um die Arbeitslosenquote in Frankreich zu senken, müsste die Konjunktur endlich anspringen und die Wirtschaft spürbar wachsen. Doch solch eine Wende will sich nicht abzeichnen. Im Gegenteil: Beinahe täglich wird über irgendeine Pleite berichtet, die Angst vor einer Rezession wächst. Der Internationale Währungsfonds schaut besonders sorgenvoll nach Frankreich. Drifte die führende Industrienation ab in die Rezession, so das düstere IWF-Szenario, dann könnten die EU-Kernländer gefährdeten Randstaaten nicht mehr helfen wie bisher. Ein Horror.

Für Julien Méléard, den einst so stolzen Arbeiter bei Peugeot-Citroen, war es bisher eine Selbstverständlichkeit, französische Autos zu fahren. Diese „patriotische“ Einstellung zum Automobil hat sich spätestens seit dem Arbeitskampf geändert. „Mein nächster Wagen“, sagt er mit funkelnden Augen, „wird ganz sicher kein Franzose sein, sondern deutscher sein: am liebsten ein Audi.“