Essen. Christoph M. Schmidt, der neue Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, hält nichts von einer überzogenen Armutsdiskussion. „Wenn wir hierzulande von Armut sprechen, ist dies im Verhältnis zu einem relativ hohen Lebensstandard gemeint.“ Damit sei keine existenzielle Not gemeint, sagte er.
Die fünf „Wirtschaftsweisen“ haben einen neuen Vorsitzenden: Christoph M. Schmidt (50), Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, rückt an die Spitze des Sachverständigenrats. Im Interview äußert er sich zur Rolle des Gremiums, zu Armut und Reichtum in Deutschland und der Krise in Europa.
Was sollte der Sachverständigenrat vor allem sein: Mahner, Ratgeber, ordnungspolitisches Gewissen der Nation?
Christoph Schmidt: Alle drei Funktionen spielen eine Rolle. Wir wollen Themen, die für die Gesellschaft relevant sind, frühzeitig identifizieren, also nicht auf Wellen des Zeitgeistes surfen, sondern Vorreiter sein. Uns geht es um die langfristige Perspektive, nicht um den Schnellschuss. Richtig ist auch: Mit ordnungspolitischen Grundsätzen allein lassen sich Krisen nicht meistern. Aber wir brauchen ordnungspolitische Grundsätze als Leitlinien für den Weg aus der Krise.
Findet der Sachverständigenrat genug Gehör in der Politik?
Schmidt: Nicht jede gute Idee wird sofort eins zu eins umgesetzt. Es sind dicke Bretter, die wir bohren. Ein langer Atem ist notwendig, um etwas zu bewegen.
Ist die Krise der Wirtschaft auch eine Krise der Wirtschaftswissenschaften?
Schmidt: Wir müssen selbstkritisch sein. Auch wir haben nicht alles schon immer gewusst, sondern dazu gelernt. Zu den Versäumnissen der Wirtschaftswissenschaften gehört auch, einen Generalverdacht zugelassen zu haben. Ich kenne keinen ernsthaften Ökonomen, der gesagt hätte: „Der Markt richtet es immer.“ Dennoch gab es die öffentliche Wahrnehmung, eine solche Anschauung sei herrschende Lehre in den Wirtschaftswissenschaften. Es ist auch unsere Schuld, dass dieser Eindruck entstanden ist.
Aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung geht hervor, dass die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Sehen Sie die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft?
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Schmidt: In nahezu allen entwickelten Gesellschaften hat die Spreizung der Löhne zugenommen, in Deutschland noch vergleichsweise moderat. Wenn wir hierzulande von Armut sprechen, ist dies im Verhältnis zu einem relativ hohen Lebensstandard gemeint. Das ist nicht die existenzielle Not, die wir mit Armut in anderen Ländern verbinden. Eine soziale Marktwirtschaft wie in Deutschland verträgt es aber sicher nicht, wenn die Ungleichheit über ein gesellschaftlich akzeptiertes Maß hinaus wächst. Aber davon sind wir nach meiner Einschätzung noch weit entfernt. Wir haben ein außerordentlich hohes Maß an Umverteilung.
Ist jetzt die Zeit für kräftige Lohnerhöhungen gekommen?
Schmidt: Wir sollten von Branche zu Branche unterscheiden. Grundsätzlich gilt: Die Arbeitsmarktzahlen sind auch deshalb so gut, weil sich die Löhne am Zuwachs der Produktivität orientiert haben. Es wäre falsch, Lohnsteigerung in Deutschland bewusst dazu einzusetzen, bei uns die Kaufkraft zu erhöhen, um die Exporte von Ländern wie Griechenland oder Italien zu heben. Ein solcher Effekt verpufft sehr schnell und hilft dauerhaft nicht weiter. Die Krisenländer der Eurozone müssen ihre Hausaufgaben schon selbst machen.
Sparen – oder Wachstum auf Pump: Wie kommt Europa aus der Krise?
Schmidt: Ein Weg, der nur auf Sparen beruht, führt nicht zum Ziel. Eine Strategie, die kein Sparen vorsieht und nur darauf setzt, die Wirtschaft anzukurbeln, wäre ebenfalls falsch. Wir brauchen beides: Solidität und Solidarität, Geben und Nehmen. Daher haben wir auch das Konzept eines Schuldentilgungspakts für Europa entwickelt, der Elemente einer zeitweiligen Gemeinschaftshaftung als Gegenleistung für Reformschritte vorsieht. Haushalte konsolidieren und Wachstum anregen: Beides muss gleichzeitig passieren.
Die Politik hat die Idee nicht aufgegriffen. Sehen Sie noch die Chance auf eine Verwirklichung?
Schmidt: Ja. Aber je länger wir damit warten, desto schwieriger wird es. Je mehr Länder in die Schieflage geraten, umso weniger Länder sind in der Lage, den Pakt zu tragen. Griechenland, Irland und Portugal können jetzt schon nicht mehr mitmachen. Doch die Alternative, die wir derzeit sehen, bringt enorme Risiken mit sich. Wir erleben derzeit nämlich eine undurchsichtige Form der demokratisch nicht legitimierten Gemeinschaftshaftung über die Europäische Zentralbank.
Sehen Sie eine Inflationsgefahr?
Schmidt: Nicht im Moment, die Probleme können in der Zukunft entstehen. Die EZB hat den Banken sehr viel Liquidität bereitgestellt, aber die Institute haben das Geld wieder bei der EZB geparkt. Deshalb ist die Geldmenge gar nicht so stark gestiegen und damit auch nicht die akute Inflationsgefahr. Die Frage ist: Kann die Zentralbank, wenn die Konjunktur anspringt, die Liquidität schnell genug wieder aus dem Markt nehmen? Die Gefahr ist groß, dass Haushalts- und Geldpolitik dann bereits so stark vermischt sind, dass die EZB den geldpolitisch gebotenen Rückzug nicht in der notwendigen Form vollziehen kann. Dieses Risiko gilt es dringend zu vermeiden.