Essen. . Das Ruhrgebiet könnte zu den Verlierern der Energiewende gehören. Experten sehen das Risiko, dass durch den Umbau der Stromversorgung rund 200.000 Stellen in der Industrie wegfallen könnten. 40 Prozent des industriell genutzten Stroms bundesweit werden derzeit in NRW verbraucht.
Das Ziel ist ehrgeizig, sehr ehrgeizig: Nach dem Willen der Bundesregierung sollen bis zum Jahr 2050 rund 80 Prozent der in Deutschland erzeugten Energie aus erneuerbaren Quellen kommen. Doch am Ruhrgebiet könnte die politisch gewollte Energiewende vorbeigehen, schlimmer noch: Experten sehen ein hohes Risiko, dass Nordrhein-Westfalen einer der Verlierer des Umwandlungsprozesses ist, weil Arbeitsplätze verloren gehen und die Wirtschaftskraft sinkt.
Einer, der zur Hochrisikogruppe zählt, ist Martin Iffert. Der Geschäftsführer des Essener Aluminiumproduzenten Trimet müsste sich eigentlich über die Energiewende freuen. Denn der Ausbau der Stromnetze und Windkraftanlagen kurbelt den Absatz von Aluminium spürbar an. Doch Iffert sieht auch die andere Seite der Medaille: Steigen seine Stromkosten – Strom ist für Aluhersteller quasi der Rohstoff –, steht die Wettbewerbsfähigkeit von Trimet auf dem Spiel. „Die Kunden können das Material ja auch woanders in der Welt kaufen“, beschreibt Iffert das Dilemma. Er sehe bislang nicht, wie sich Energiewende und Wettbewerbsfähigkeit vereinbaren lassen.
NRW ist zu stark auf Stein- und Braunkohle fixiert
Marc Oliver Bettzüge, Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts in Köln, hält beides für unvereinbar, gerade im Ruhrgebiet und NRW. Schaue man auf die Landkarte, entdecke man schnell ein geografisches Missverhältnis. Einerseits sei die Nachfrage nach Energie in ganz NRW besonders hoch. 40 Prozent des industriell genutzten Stroms werden in NRW verbraucht. Hinzu kommt, dass mehr als drei Viertel des Stroms aus Kraftwerken auf Braun- und Steinkohlebasis erzeugt wird. Im Zuge der Energiewende müsste dieses Verhältnis also komplett umgedreht werden. Doch die Möglichkeiten für einen Ausbau von Sonnen- und Windkraft im Ruhrgebiet schätzt Bettzüge als sehr gering ein.
Dies offenbart sich am Ausbau der Photovoltaik: Die Verbraucher in NRW zahlen 2,2 Milliarden Euro EEG-Umlage – exakt jener Betrag, der als Förderung nach Bayern fließt. Hier gehört NRW also schon zu den Verlierern.
Produktions-Einbußen durch überlastete Stromnetze
„Um die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, unterstellt das Energiekonzept der Bundesregierung einen massiven Ausbau der Netze“, so Bettzüge. Dies werfe die Frage nach einer sicheren Stromversorgung der Industrie auf. In welche Richtung es im Ruhrgebiet gehen könnte, weiß Martin Iffert: Der Hamburger Trimet-Standort wurde 2011 mehrfach heruntergefahren, um das Stromnetz zu stabilisieren. Die Zahl der Eingriffe ins Übertragungsnetz schnellt parallel zum Ausbau der Erneuerbaren Energien in die Höhe. 2003 musste Netzbetreiber Tennet an zwei Tagen zweimal eingreifen. 2011 waren es 1024 Maßnahmen an 308 Tagen. Der Essener Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft ermittelt zurzeit, inwieweit seine Mitglieder Produktionseinbußen in Folge von Spannungsschwankungen haben.
In seiner Skepsis gegenüber der Energiewende ist Bettzüge einig mit Manuel Frondel, Energieexperte beim Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung: „Es besteht ein hohes Risiko, dass damit die Grundlage der Industrie zunichte gemacht wird. Damit wäre ein erheblicher Arbeitsplatzverlust und eine Schwächung der Wirtschaftskraft verbunden.“
Die Landesregierung teilt diese Botschaft offenbar. Der Wirtschaftsbericht 2012 lässt eine deutliche Absetzbewegung von der Energiewende erkennen. Die Energiewende bedeute auf Grund tendenziell steigender Strompreise für energieintensive Industrien (Eisen, Stahl, Glas, Chemie) weniger Chance als vielmehr Risiko. Und der Bericht räumt mit dem Argument der Arbeitsplätze bei den Erneuerbaren auf: Zwar gebe es in diesem Bereich in NRW 36.000 Jobs. Doch in den energieintensiven seien es rund 200 000 – die im Zuge der Energiewende auf dem Spiel stünden.