Davos. . Fast 3000 Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik reden in Davos über den Kapitalismus und seine Zukunft. Kanzlerin Angela Merkel lehnt bei ihrer Eröffnungsrede weiter eine Aufstockung der Rettungsschirme für den Euro ab.
Angela Merkel war sichtbar angespannt, als sie die Bühne im großen Saal des Kongresszentrums von Davos betrat. Vor ihrer Eröffnungsrede des diesjährigen Weltwirtschaftsforums lasteten hohe Erwartungen auf der deutschen Kanzlerin. Nicht nur der Internationale Währungsfonds rät dringend, die Euro-Zone, vor allem aber Deutschland müsse mehr Geld in die Stabilisierung seiner Währung investieren. Diese Erwartungen enttäuschte Merkel.
Aber ihre Botschaft hatte zwei Teile. Sie lautete: Wir wollen mehr Europa wagen, doch unsere gegenseitige Solidarität muss auch Grenzen haben. Einerseits plädierte die Kanzlerin für mehr politische und ökonomische Integration, andererseits stellte sie aber unmissverständlich klar, dass die gegenwärtigen Summen für die Euro-Stabilisierungsfonds aus deutscher Sicht nicht aufgestockt werden sollten.
Mit dieser Position gab Merkel die Richtung zu einem der beiden wichtigsten Themen des Weltwirtschaftsforums vor, zu dem knapp 3000 Manager und Politiker, darunter etwa 40 Regierungschefs in den mondänen Schweizer Skiort kommen. In vielen Veranstaltungen beschäftigt sich das WEF außerdem mit der Frage, wie der Kapitalismus renoviert werden muss.
Sehr deutlich sagte Merkel, dass die beiden europäischen Stabilisierungsfonds mit 440 Milliarden Euro (bisheriger EFSF) und 500 Milliarden (kommender ESM) ihrer Ansicht nach genug Geld zur Verfügung hätten, um hoch verschuldete Staaten wie Griechenland, Portugal oder Italien vor dem Bankrott zu bewahren. Die Kanzlerin stellte die rhetorische Frage, wie man denn reagieren solle, wenn die Investoren statt der doppelten Summe bald vielleicht die dreifache Größenordnung für notwendig hielten. Derartige Summen, legte Merkel nahe, könnten dann wohlmöglich auch die Zahlungsfähigkeit Deutschlands überschreiten. „Wir sollten nichts versprechen, das wir eventuell nicht halten können“, sagte sie.
So zurückhaltend die Regierungschefin in der Geldfrage war, so eindringlich sprach sie sich für die europäische Integration aus. Dies bedeute auch, mehr nationale Kompetenzen an europäische Institutionen zu übergeben. Auf die Dauer solle aus der EU-Kommission eine „richtige Regierung“ werden, und auch das EU-Parlament müsse mehr Gestaltungsmöglichkeiten erhalten.
Publikum kapitalismuskritischer als die Kongressteilnehmer
Das Publikum ist deutlich kritischer als das Podium. Bei der Eröffnungsdebatte des Weltwirtschaftsforums in Davos stimmt nahezu die Hälfte der Zuhörer mit „Nein“, als ihnen der Moderator eine scheinbar unkomplizierte Frage stellt: „Passt der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts noch zur Gesellschaft des 21. Jahrhunderts?“ Die wichtigen Leute an den Mikrofonen sind da überwiegend anderer Meinung: Vier von fünf finden, dass das Wirtschaftssystem trotz allem ganz gut funktioniert.
Damit ist der größte Manager- und Politikertreff der Welt schon am ersten Tag bei einem der entscheidenden Punkte angekommen. Wie halten wir es mit der Marktwirtschaft, die man neuerdings wieder Kapitalismus nennen darf? Diese Debatte haben sich die 2.000 ökonomischen und politischen Spitzenkräfte, die diesmal zum alljährlichen WEF gekommen sind, nicht selbst ausgesucht. Sie wurde ihnen aufgezwungen durch die Finanzkrise seit 2007 und seit einiger Zeit auch von der neuen Occupy-Bewegung.
Obwohl sie als Einzige auf dem Podium die Eingangsfrage ebenfalls mit „Nein“ beantwortet, betreibt Sharan Burrow vom Internationalen Gewerkschaftsbund ITUC doch zunächst eine Ehrenrettung des Kapitalismus. „Wir reden hier nicht darüber, ob das System als Ganzes versagt hat“, sondern über einzelne Fehler. Davon aber gebe es aber genug, beispielsweise die nach wie vor kaum gebremste Gier der Finanzinvestoren und 200 Millionen Arbeitslose weltweit. Burrow kommt zu diesem Schluss: Die Politik müsse die Wirtschaft dazu bringen, mehr zur Gesellschaft beizutragen. „Die Unternehmen haben heute zu viel Macht“, sagt die Gewerkschafterin.
Die Gegenposition nimmt sofort Ben Verwaayen, der Vorstandsvorsitzende von Alcatel-Lucent ein. Provokativ dreht er die These einfach um. Er sagt: „Die Unternehmen haben zu wenig Macht“. Im Gegensatz zu Gewerkschaften und Regierungen, die nur das Alte beschützten, sei es schließlich die Wirtschaft, die ständig an Neuem arbeite und damit auch neue Produkte, Arbeitsplätze und zusätzlichen Wohlstand schaffe.
Investor George Soros geht vor allem mit Deutschland hart ins Gericht
Das klinge zwar gut, antwortet Raghuram Rajan, Ökonomie-Professor der Universität Chicago, aber stimme es auch? In den alten Industriestaaten gingen die Wachstumsraten doch seit Jahrzehnten zurück, gibt er zu bedenken. Rajan bringt es auf diesen Punkt: Wie kann die Marktwirtschaft in Nordamerika, Europa und Japan soziale Teilhabe für alle Bürger gewährleisten, obwohl nicht nur die Wachstumsraten sinken, sondern auch die Staatsausgaben infolge der Finanz- und Schuldenkrise?
Rajan zeichnet zwei Auswege. Zum Einen müsse man jungen Unternehmern, so genannten Entrepreneuren, mehr Möglichkeiten bieten, um neue Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Mehr Innovation schaffe mehr Wachstum und damit auch mehr Wohlstand, lautet sein Plädoyer. Und zweitens gehe es darum, die Beschäftigten weltweit mit mehr Bildung auszustatten, damit sie in der modernen Welt ihren Lebensunterhalt verdienen können. Unter dem Strich ist der Ökonomie-Professor aus Chicago überzeugt, das wir den seit 200 Jahren anhaltenden Kreislauf aus mehr Angebot, neuen Bedürfnissen und mehr Nachfrage am Laufen halten können – in den schnell wachsenden Schwellenländern wie Indien, China und Brasilien ist das ja sowieso keine Frage.
Ein paar hundert Meter weiter stellt kurz danach Investor George Soros sein neues Buch über die Finanzkrise vor und eröffnet damit das zweite große Thema von Davos – die Euro-Krise. Soros geht hart ins Gericht vor allem mit Deutschland. Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble durchgesetzte Sparpolitik in Europa werde zu einem Teufelskreis aus wirtschaftlicher Schrumpfung und steigender Arbeitslosigkeit führen, prognostiziert Soros.
Stattdessen müsse Europa ein ausgewogenes Maß an finanzieller Disziplin und Investitionen in die Zukunft finden. Außerdem plädiert Soros für die umstrittenen Euro-Bonds. Ohne gemeinsame Staatsanleihen aller Euro-Staaten würden Länder wie Griechenland, Portugal oder Spanien von den hohen Zinsen, die sie zahlen müssen, erdrückt und schließlich in den Staatsbankrott getrieben.