Berlin. Die deutsche Wirtschaft kommt einfach nicht in Fahrt. Das hat auch mit strukturellen Problemen zu tun. Ein Check, was schiefläuft.

Deutschland wird als Letzter ins Ziel kommen. Schon wieder. Das erwartet zumindest der Internationale Währungsfonds (IWF) mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung in den großen Industrienationen. Schon im vergangenen Jahr trug Deutschland die rote Laterne. In diesem Jahr sagt der IWF für Deutschland eine Stagnation voraus. Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) musste seine Konjunkturprognose jüngst nach unten korrigieren: Er erwartet in diesem Jahr die zweite Rezession in Folge – das gab es zuletzt vor 21 Jahren.

Ein düsteres Bild zeichnen auch die Ökonomen Claus Michelsen und Simon Junker, die ihre aktuelle Herbstprognose für den Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) erstellt haben. Die Prognose liegt unserer Redaktion vorab vor. Darin gehen die Forscher in diesem Jahr von einem Rückgang um 0,1 Prozent und im nächsten Jahr von einem Mini-Wachstum von 0,9 Prozent aus. „Nicht nur der zunehmende Fachkräftemangel, sondern auch das ungünstigere weltwirtschaftliche Umfeld führen zu einem geringeren Wachstum in Deutschland“, heißt es darin. Immerhin: Würde die Bundesregierung ihre beschlossene Wachstumsinitiative zeitnah umsetzen, könnte das BIP einen Schub um 0,4 Prozent erhalten.

Und dennoch: Im internationalen Vergleich hinkt Deutschland weiter hinterher. Woran liegt das? Unsere Redaktion macht den Check.

Bürokratie

Etwa 13.000 Gesetzesakte hat die Europäische Union seit 2019 erlassen, das hat der frühere Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, kürzlich zusammengezählt. In den USA seien es im gleichen Zeitraum nur 5000 gewesen. Und Deutschland habe den Hang, die europäischen Vorgaben überzuerfüllen, sagte Volker Treier, Außenhandelsexperte der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK).

Unternehmen hemmt das immens: 37 Stunden Arbeitszeit müssen Mitarbeiter in Bürokratie investieren, um ein Standardexportgeschäft abzuwickeln. Damit liegt der Standort Deutschland auf Platz 20 von 21 unter den untersuchten OECD-Staaten, so eine neue Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW).

Auch das „Doing Business“-Ranking der Weltbank misst den Aufwand für Unternehmen, Steuererklärungen abzugeben, Exporte abzuwickeln oder neue Betriebsstätten zu gründen. Unter den hoch entwickelten OECD-Ländern schneiden Neuseeland, Dänemark, Südkorea, USA und Großbritannien am besten ab. In Frankreich gelang 2015 eine große Bürokratiereform. „Das zahlt sich für die wirtschaftliche Entwicklung unmittelbar aus. In Deutschland warten wir bis heute auf den großen Wurf“, erklärt Industrieökonom Oliver Falck vom Ifo-Institut.

Energiepreise

Stahl, Chemie, Raffinerien – Deutschland hat viel energieintensive Industrie. Ausschläge an den Energiemärkten spüren sie sehr direkt. Vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine, sagt Energieexperte Sven Kreidelmeyer vom Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos, habe Deutschland durch russisches Gas einen im internationalen Vergleich sehr niedrigen Gaspreis gehabt. „Jetzt sind wir näher am internationalen Schnitt“, sagt Kreidelmeyer. Im Vergleich zu einem Land wie den USA, das durch eigene Förderung sehr niedrige Gaspreise hat, „ist das ein Wettbewerbsnachteil“.

Auch beim Strom zahlen Unternehmen in den USA und in China deutlich weniger als in Deutschland. Beide Länder liegen laut einer Prognos-Auswertung von 2023 bei durchschnittlich 8,4 Cent pro Kilowattstunde Strom für Industriekunden. In Deutschland waren es demnach 20,3 Cent. Der EU-Durchschnitt allerdings liegt nur knapp darunter und einige europäische Länder, wie das Vereinigte Königreich und Italien, sogar deutlich darüber.

Exportabhängigkeit

Zwischen 2003 und 2008 war Deutschland sechs Jahre in Folge „Exportweltmeister“. Auch wenn mittlerweile China und die USA der deutschen Wirtschaft den Rang abgelaufen haben, so ist die deutsche Wirtschaft dennoch stark von ihren Ausfuhren abhängig. Im ersten Halbjahr des laufenden Jahres wurden Waren im Wert von 801,7 Milliarden Euro exportiert. Importiert wurden im selben Zeitraum Waren im Wert von 662,8 Milliarden Euro. Wichtigstes Exportgut sind nach wie vor Autos und Autoteile. Doch gerade die Autoindustrie erlebt hierzulande gerade eine schwere Krise. Daran hat auch China einen wesentlichen Anteil. Die chinesische Wirtschaft wächst weniger stark als in den vergangenen Jahren. Vor allem aber macht sich das Land zunehmend unabhängig von ausländischer Technik. Im Automobilsektor machen heimische chinesische Marken den deutschen Autobauern das Feld streitig.

Wichtigster Exportpartner für Deutschland sind die USA. Hier droht aber womöglich Ungemach, sollte Donald Trump der nächste US-Präsident werden und eine rigide Zollpolitik durchsetzen. Immerhin: Nachdem im Zuge der Lieferkettenprobleme in Folge der Corona-Pandemie und der Energiekrise nach Russlands Angriff auf die Ukraine sowohl in den USA als auch in Europa die Zinsen schnell erhöht wurden, ist die Zinswende mittlerweile eingeleitet. Sinkende Zinsen dürften mittelfristig der Exportwirtschaft helfen.

Fachkräfte

Deutschland fehlen Menschen. Rund 400.000 erwerbsfähige Personen im Jahr müssten jedes Jahr netto einwandern, um die Zahl der Arbeitskräfte gegen den demografischen Trend stabil zu halten. Tatsächlich kommen deutlich weniger. 663.000 Zuzüge gab es netto 2023, Erwerbsmigranten aus Drittstaaten waren davon nur 73.000.

„Wir sind kein unattraktives Land für Einwanderer, das gilt auch für Höherqualifizierte“, sagt Herbert Brücker, Migrationsexperte am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Hohe Löhne, soziale Stabilität, Menschenrechte und der Rechtsstaat würden von Einwanderungswilligen als positive Faktoren genannt. „Aber die Menschen, die schon eine Weile hier sind, beklagen starke Diskriminierung, zum Beispiel bei der Wohnungssuche.“ Das spreche sich herum.

Schon jetzt, sagt Brücker, bremse die unzureichende Einwanderung das Wachstum. Er warnt aber vor allem vor einem sich selbst verstärkenden Effekt: „Wenn die Wirtschaft schwächelt, kommen weniger Menschen. Und wenn weniger Menschen kommen, wird weniger investiert und produziert, sodass sich die Wirtschaftsaussichten weiter verschlechtern.“

Investitionsklima

Wie sehr Investoren das Vertrauen in den deutschen Wirtschaftsstandort verloren haben, zeigen die Zahlen. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) haben Unternehmen allein zwischen 2022 und 2023 mehr als 200 Milliarden Euro Kapital aus Deutschland abgezogen.

Was Firmenchefs davon abhält, hier zu investieren, sind unter anderem lange Genehmigungsverfahren, viel Bürokratie, vergleichsweise hohe Arbeitskosten und Unternehmenssteuern sowie schlechtere Abschreibungsbedingungen. „Wir diskutieren ewig über mögliche Reformen, die dazu führen, dass mehr Liquidität in den Unternehmen verbleibt. Dabei machen andere Länder längst vor, was möglich ist“, sagte DIHK-Experte Treier.

Als Beispiel nennt er den Inflation Reduction Act (IRA) der USA, der konkret dazu führe, dass zukunftsorientierte Investitionen nun in Amerika und zu wenig in Europa getätigt würden. Innerhalb des IRA gibt es für alle erdenklichen Klimaschutzmaßnahmen Steuervergünstigungen (Tax Credits), Zuschüsse und Darlehensbürgschaften.

Auch in Deutschlands Nachbarland Frankreich läuft es mit Investitionen besser: In keinem anderen europäischen Land haben relativ seit 2020 mehr ausländische Unternehmen investiert als in der Grande Nation. Ausschlaggebend dafür: großzügige Steuervergünstigungen, eine umfangreiche Förderung von Zukunftstechnologien und günstige Energie.

Ifo-Ökonom Falck empfiehlt Deutschland aber, nicht in den Wettlauf um Subventionen einzusteigen. „Der Fall von Intel zeigt, wie erpressbar uns das macht und wie schnell die Subventionszusagen in die Höhe geschossen sind“, so Falck. Stattdessen müsse der Standort grundsätzlich in seiner Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden. 

Lohnnebenkosten

Deutschland hat eine hohe Steuer- und Abgabenlast. Ein lediger Durchschnittsverdiener ohne Kinder musste im vergangenen Jahr 47,9 Prozent seines Lohns für Steuern und Abgaben zahlen, hat die OECD ermittelt. Nur in Belgien ist die Abgabenlast noch höher, der OECD-Durchschnitt liegt gerade einmal bei 34,8 Prozent.

Viele Abgaben tragen nicht nur die Beschäftigten, sondern auch die Arbeitgeber mit. So zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber je 7,3 Prozent des Lohns an die Krankenversicherung, 9,3 Prozent an die Rentenversicherung, 1,3 Prozent für die Arbeitslosenversicherung und 1,7 Prozent für die Pflegeversicherung. Jüngst wurde bekannt, dass der Zusatzbeitrag bei den Krankenkassen um den Rekordwert von 0,8 Prozentpunkten angehoben werden soll. Auch bei der Pflegeversicherung ist aufgrund der Unterfinanzierung mit Beitragserhöhungen zu rechnen.

Neben den geteilten Lohnnebenkosten gibt es auch Kosten, die die Arbeitgeber alleine tragen, etwa für die gesetzliche Unfallversicherung. Diese Lohnnebenkosten machen die Arbeit teuer. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes kostete eine geleistete Arbeitsstunde in Unternehmen des produzierenden Gewerbes und im Dienstleistungsbereich 2023 durchschnittlich 41,30 Euro. Im EU-Vergleich liegt Deutschland damit auf dem sechsten Platz. Allerdings: Blickt man ausschließlich auf die von den Arbeitgebern getragenen Lohnnebenkosten, dann liegt Deutschland sogar leicht unter dem EU-Durchschnitt.