Essen. Nach Esprit, Aachener und anderen Textilketten ist nun auch Sinn in die Insolvenz gerutscht. Die Gründe reichen von Corona bis Temu und Shein.

Das Sterben der Textilhändler geht weiter: Nun hat die Hagener Kette Sinn beim dortigen Amtsgericht Insolvenz angemeldet. Sinn hat noch 41 Filialen und rund 1500 Beschäftigte. Der Schwerpunkt liegt in NRW und dem Ruhrgebiet, Filialen gibt es in Duisburg, Essen, Oberhausen, Bottrop, Bochum, Recklinghausen, Hagen und Unna.

In diesen Tagen soll sich auch das Schicksal der Ratinger Modekette Esprit entscheiden, die ebenfalls ein Insolvenzverfahren durchläuft und bei der wahrscheinlich die meisten der oder alle 1300 Beschäftigten ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Von zwei verbliebenen Interessenten will keiner die Kette als Ganzes übernehmen, sondern einer nur den Markennamen und der andere den Markennamen und ein kleines Rumpfgeschäft. Es läuft auf den Londoner Investmentspezialisten Alteri hinaus, der nur den Namen, Lizenzen und Schnittmuster kaufen will.

Aachener, P&C, Gerry Weber, Galeria, Sinn: Die Pleitewelle

Zuvor waren bereits die Modehauskette Aachener, im vergangenen Jahr Gerry Weber und P&C in eine Insolvenz gerutscht. Die Warenhauskette Galeria Karstadt Kaufhof, deren Sortiment zu großen Teilen ebenfalls aus Bekleidungsartikeln besteht, ist gerade erst ihrem dritten Insolvenzverfahren binnen vier Jahren entkommen.

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Eine Insolvenz nach der anderen beklagt auch der Schuhhandel seit Jahren: Prominenteste Beispiele waren und sind Salamander, Görtz, Reno und Klauser. Europas größter Schuhhändler, die Essener Deichmann-Gruppe, trennte sich von ihrer Sneakerkette Onygo und schloss seinen Ableger Myshoes.

Im Bereich Textil- und Modelhandel gaben im vergangenen Jahr 278 Unternehmen auf, knapp 60 Prozent mehr als im Vorjahr. Und in diesem Jahr setzt sich dieser Negativtrend fort. In NRW nahmen die Insolvenzanmeldungen im ersten Quartal laut Landesstatistikamt um weitere 31 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal zu.

Handelsverband BTE: Rückzahlung von Coronahilfen kostet noch Existenzen

Die Probleme des Textilhandels seien vielschichtig, betont Rolf Pangels, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Textil, Schuhe und Lederwaren (BTE). Viele Betriebe hätten immer noch mit den Pandemiefolgen zu kämpfen, aktuell gerieten etliche noch in Existenznöte, weil sie ihre Coronahilfen zum Teil oder ganz zurückzahlen sollen – die mehrfach verlängerte Frist für die Abrechnungen endet im September. Wachsende Onlinekonkurrenz und die Konjunkturflaute kommen hinzu: „Die Leute haben volle Schränke“, weiß Pangels, Bekleidung sei deshalb immer vorne dabei, wenn in den Haushalten akut gespart werden müsse.

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Eigentlich hatte sich die Modebranche nach den drei harten Jahren der Pandemie ganz gut erholt, im vergangenen Jahr wieder in etwa das Vorkrisenniveau von 2019 erreicht. Die stationären Händler leiden aktuell aber unter gestiegenen Kosten für Energie und im Einkauf. In Verbindung mit dem harten Preiswettbewerb und den daher sehr geringen Gewinnmargen im Textilhandel eine schwierige Gemengelage, der immer wieder bekannte Handelsketten zum Opfer fallen oder die sie zumindest in eine Insolvenz zwingen, um Schutz vor ihren Gläubigern und die Chance auf einen Neustart zu erhalten.

Handelsexperte: Die Leute sparen an der Bekleidung zuerst

Warum tun sich besonders Textil- und Schuhhändler so schwer? „Seit 20 Jahren geht der Anteil dessen, was die Leute von ihrem Einkommen für Bekleidung ausgeben“, zurück, sagt Hansjürgen Heinick, er ist Fashion-Handelsexperte des Marktforschungsinstituts IFH Köln. Lange seien die Preise für Textilmode gesunken, auch durch Modediscounter wie KiK und H&M.

Derzeit steigen die Preise wieder - aber zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Denn Deutschland und die Welt stecken in einer Konjunkturkrise, „die Leute können weniger ausgeben, alle halten ihr Geld zusammen“, sagt Hansjürgen Heinick. Und: „Wenn man sie fragt, wo sie als erstes sparen, wird meistens Bekleidung genannt.“

Mittelpreisige Modehändler haben es besonders schwer

Dass es zuletzt vor allem Ketten im mittelpreisigen Bereich wie Gerry Weber, P&C, Esprit und nun auch Sinn getroffen hat, wundert den Branchenexperten nicht. Denn gerade diese stationären Ketten stünden in einem sehr harten Preiswettbewerb – und zwar sowohl mit den großen Onlineplattformen als auch mit den Marken selbst, die ihre Schuhe, Hosen und T-Shirts vermehrt in ihren eigenen Onlineshops verkaufen.

Das Sterben der mittelpreisigen Händler zeichne sich schon länger ab, betont BTE-Geschäftsführer Pangel: „Die Leute kaufen entweder sehr hochwertige, teure Kleidung, wenn sie es sich leisten können, oder aber sie müssen sparen und greifen zu günstiger Ware“, sagt er. Das sei auch ein Spiegelbild der Gesellschaft, die auseinanderdrifte: „Es gibt mehr Reiche und mehr Arme, die Mittelschicht bricht dazwischen weg.“

Shein, Temu & Co. erhöhen den Druck auf stationäre Händler

Und der Druck auf die stationären Händler, deren Sterben zugleich die Krise vieler Innenstädte gerade auch im Ruhrgebiet verschärft, nimmt nicht ab. Ganz im Gegenteil: Junge Plattformen wie Temu und Shein aus China sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch, schicken täglich Hunderttausende Pakete aus dem fernen Osten Richtung Deutschland. „Das trifft unsere Branche hart“, sagt Pangels Der Branchenverband schätzt, dass die Verbraucher in Deutschland 2023 rund eine Milliarde Bekleidungsstücke und Schuhe bei außereuropäischen Anbietern gekauft haben.

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Sie könnten sehr billige Produkte anbieten, weil sie weder auf Umwelt- noch Menschrechts-Standards achten müssten, geringe Löhne zahlten und nichts mit europäischen Lieferketten-Gesetzen oder anderen Auflagen zu tun hätten, erläutert Pangels mit Blick auf Shein, Temu und andere Plattformen. Für diese „unkontrollierten Direkt-Importe der Endverbraucher“ fordert der BTE „eine wirksame Kontrolle“, um die Kunden und den hiesigen Wettbewerb zu schützen. Denn viele Bekleidungsstücke und Schuhe dieser Anbieter entsprächen „nicht den in der EU geltenden Vorgaben und sind mitunter sogar gesundheitsgefährdend“.

Handelsexperte: Shein und Temu sind keine Eintagsfliegen

„Shein und Temu sind keine Eintagsfliegen mehr, ihre niedrigen Preisen verfangen vor allem bei jungen Leuten“, sagt auch IFH-Modeexperte Heinick. Wie stark die Auswirkungen auf den hiesigen Einzelhandel seien, lasse sich aber schwer prognostizieren. „Wenn diese Anbieter es schaffen, schneller und verlässlicher zu liefern und vor allem die Qualität ihrer Produkte zu verbessern, werden sie aber sicher ernstzunehmende Konkurrenten“, glaubt der Marktbeobachter.

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