Essen. In zehn Jahren hat Joblinge 2000 benachteiligte Jugendliche für eine Ausbildung qualifiziert. Was sich die Initiative für die Zukunft vornimmt.
Vor zehn Jahren ging die Initiative Joblinge Ruhr an den Start. Am Ziel, Menschen zwischen 15 und 27 Jahren, die langzeitarbeitslos sind, zu qualifizieren und in Ausbildung zu bringen, hat sich nichts geändert. Angesichts des akuten Arbeitskräftemangels sind die Absolventen aber mehr gefragt denn je. Im Interview erklären die Aufsichtsräte Bärbel Bergerhoff-Wodopia und Friedrich P. Kötter, wie Joblinge Talente fördert und warum der Ausbildung ein höherer Stellenwert eingeräumt werden müsse.
Am 1. August beginnt das nächste Ausbildungsjahr. Ist die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber so knapp wie in den Vorjahren?
Friedrich P. Kötter: Wir sind bei der Suche fleißig dabei. Bundesweit hat die Kötter Unternehmensgruppe rund 130 Stellen zu vergeben. Ein gutes Drittel ist noch offen. Es wird immer schwieriger, die Jugendlichen für eine Ausbildung zu begeistern. Viele wollen lieber studieren oder wissen gar nicht, in welche Richtung es überhaupt gehen soll.
Bärbel Bergerhoff-Wodopia: Die RAG-Stiftung selbst bildet nicht aus. Bei der Stiftung sind wir nur 26 Mitarbeitende. Aber die Gesellschaften, an denen wir beteiligt sind, bilden aus. Vivawest sucht nach wie vor Auszubildende beispielsweise für das Grünflächenmanagement und das Handwerkszentrum. Der demografische Wandel zeigt auf, dass mehr ausgebildet werden muss. Deshalb haben die auszubildenden Betriebe die Zahl der Ausbildungsplätze auch erhöht. Wir beobachten aber, dass potenzielle Auszubildende eine zugesagte Stelle kurzfristig wieder absagen, wenn sie ein vermeintlich besseres Angebot erhalten. Daher wird es auch sehr kurzfristig vor Ausbildungsbeginn noch Nachbesetzungen geben.
Kötter: Deshalb appellieren wir an die Bewerber: Wenn ihr jetzt eine Absage bekommen habt, fragt bitte im August, September oder Oktober noch einmal nach.
Vor zehn Jahren gab es im Gegensatz zu heute deutlich weniger Stellen als Bewerber. Warum haben sich damals RAG-Stiftung, Kötter, Initiativkreis Ruhr, Boston Consulting, Trimet Aluminium und CMS Hasche Sigle dazu entschlossen, einen Ableger der Initiative Joblinge im Ruhrgebiet zu gründen?
Kötter: Schon damals war absehbar, dass das Arbeitskräftepotenzial immer knapper werden wird. Eine Herausforderung gerade für uns, da wir als personalorientierter Dienstleister immer über genug Mitarbeiter verfügen müssen. Wer die Beschäftigten hat, wird auch den Umsatz machen. Speziell im Ruhrgebiet haben wir ein riesiges Potenzial, das es zu heben gilt. Deshalb ist es enorm wichtig, frühzeitig auf die Jugendlichen zuzugehen und denen, die nicht aus eigenem Antrieb den Sprung in den Job schaffen, zu helfen, den richtigen Ausbildungsplatz und damit den richtigen Beruf zu finden.
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Bergerhoff-Wodopia: Der Bergbau hat im Laufe der Jahrzehnte mehr als 100.000 junge Menschen ausgebildet. Darunter waren auch viele Jugendliche, die eine zweite oder dritte Chance brauchten. Die Ausbilder haben sie unter ihre Fittiche genommen, sodass sie dann in der Regel auch pünktlich um sechs Uhr morgens zum Schichtbeginn am Förderkorb waren. Diese Funktion übernehmen heute ehrenamtliche Mentorinnen und Mentoren. Sie haben den Zugang zu den Jugendlichen. Deshalb hat uns das Joblinge-Konzept schon vor zehn Jahren überzeugt. Die intensive Betreuung ist das Entscheidende, damit der Start in den Beruf gelingt. Hier ist Joblinge bundesweit äußerst erfolgreich.
Zehn Jahre Joblinge Ruhr – schmieden Sie bereits neue Pläne?
Kötter: Unsere Initiative hat inzwischen knapp 2000 junge Leute qualifiziert und sie zum größten Teil auch in Ausbildung gebracht. Denn wir haben eine sehr hohe Vermittlungsquote von rund 70 Prozent. Hier zahlt sich aus, dass wir den Erfolg unserer Projekte fortlaufend messen. Es wäre daher wünschenswert, wenn die Politik das Übergangssystem insgesamt noch viel stärker dahingehend ausrichten könnte, dass messbare Qualität nachverfolgt und noch stärker gefördert wird.
Bergerhoff-Wodopia: Es ist zudem unser Ziel, mittelfristig an weiteren Standorten im Ruhrgebiet über Essen, Gelsenkirchen und Recklinghausen hinaus mit Niederlassungen vertreten und damit nah bei den Jugendlichen zu sein. Hier bieten sich die großen Ruhrgebietsstädte als erste an. Wir sind dafür bereits in guten Gesprächen. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass es neben Unternehmen auch zunehmend Privatleute gibt, die Joblinge unterstützen möchten. Davon brauchen wir ebenfalls mehr.
Wird Joblinge den Fokus auf Jugendliche behalten, die Unterstützung nach der Schule brauchen?
Kötter: Ja. Wir müssen beispielsweise auch den Kreislauf durchbrechen, dass die Langzeitarbeitslosigkeit von den Eltern nicht automatisch auf die Kinder „vererbt“ wird. Ich bin in Essen geboren, lebe hier seit über 50 Jahren. Unser Unternehmen ist seit fast 90 Jahren im Ruhrgebiet. Wir haben den Strukturwandel stetig begleitet. Es ist unsere Verantwortung, den Menschen vor Ort immer wieder eine Chance zu geben. Jedes Beispiel, das funktioniert, soll eine Motivation sein für den nächsten, der sagt: Ich schaffe das. Mir reicht es nicht, den ganzen Tag auf dem Sofa zu sitzen, sondern ich bringe mich ein. Je mehr Jugendliche wir gewinnen und je besser wir sie qualifizieren, umso größer ist unser Beitrag gegen den Arbeitskräftemangel. Denn alle Unternehmen brauchen Beschäftigte.
Bergerhoff-Wodopia: Im Bergbau sind viele Auszubildende gute Facharbeiter geworden, von denen man es beim Betrachten der Zeugnisnoten zunächst nicht erwartet hätte. Diese Tradition wollen wir weiterführen. Manche erfahren über Joblinge das erste Mal Wertschätzung. Das motiviert sie und ist ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg.
Unternehmen suchen händeringend nach neuen Mitarbeitenden. Wächst zugleich die Bereitschaft in der Wirtschaft, Joblinge zu unterstützen?
Bergerhoff-Wodopia: Erst einmal haben wir es geschafft, dass die Jobcenter ihren Förderanteil auf 65 Prozent erhöht haben und nur noch 35 Prozent von privater Seite finanziert werden müssen. Das ist gut so. Denn vor zehn Jahren war dies noch genau umgekehrt. Joblinge-Ruhr-Geschäftsführer Raphael Karrasch führt darüber hinaus aktuell aber auch Gespräche mit verschiedenen Ruhrgebietsunternehmen. Von dieser Seite gibt es eine große Bereitschaft, sich noch mehr einzubringen.

Kötter: Neben der rein finanziellen Unterstützung geht es auch um die Bereitstellung zusätzlicher Ausbildungs- und Praktikumsplätze für Joblinge. Hier würde ich mich über den Schulterschluss weiterer Unternehmen freuen. Unsere Unternehmensgruppe hat für Joblinge bislang allein 25 Ausbildungsverträge und 40 Praktikumsplätze ermöglicht und wir tun dies auch im neuen Ausbildungsjahr weiter. In der Regel übernehmen wir unsere Azubis.
Wie konnte es aus Ihrer Sicht überhaupt zu diesem eklatanten Arbeitskräftemangel kommen? Das Problem ist seit langer Zeit bekannt.
Kötter: Die Politik wollte die Jugendlichen eine geraume Zeit lang vor allem motivieren, studieren zu gehen. Aber nicht jede und jeder ist in der Lage, ein Studium zu absolvieren. Das theoretische Arbeiten liegt nicht allen. Gleichzeitig haben sie häufig nicht den Mut, das Studium abzubrechen. Dabei gibt es gute Alternativen: Nach wie vor hat das Handwerk goldenen Boden. Dort kann man schneller Erfolg haben als in vielen theoretischen Berufen. Dahin muss die Politik den Weg zurückfinden und zu mehr Ausgewogenheit zwischen den Branchen und Ausbildungswegen beitragen. Das Land braucht auch Handwerker.
Bergerhoff-Wodopia: Wir verlieren manchen potenziellen Auszubildenden beim Übergang von der Schule in die Ausbildung. Wer keinen Schulabschluss hat und die Hauptschule mit der Klasse 9 verlässt, dreht oft eine Schleife über die Berufskollegs. Diese Schüler zu motivieren, es in eine Ausbildung zu schaffen, ist nach wie vor ein Ziel, das wir verfolgen müssen. Deshalb müssen wir die Berufskollegs stärken, damit ein guter schulischer Abschluss möglich ist und in eine erfolgreiche Ausbildung mündet.
Glauben Sie, dass alle Jugendlichen im Sinne des Joblinge-Programms aktiviert werden können?
Kötter: Es ist ganz wichtig, jedem eine Chance zu geben. Dafür müssen wir an die Jugendlichen herankommen. Ich glaube, dass wir mit unserer Ansprache oft den Nerv der Jugendlichen treffen und sie motivieren können, die Qualifizierung mitzumachen. Den Mentoren kommt hier eine zentrale Rolle zu.
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Bergerhoff-Wodopia: Jedes Kind, jeder Jugendliche hat ein Talent. Es ist unser aller Aufgabe diese Talente zu entdecken und zu fördern. Wir dürfen nicht nachlassen, junge Menschen auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen, sodass sie sich am Ende in die Gesellschaft einbringen und ein selbstbestimmtes glückliches Leben führen können.