Essen. Exklusive Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit: In vielen Berufen suchen Arbeitgeber im Ruhrgebiet ein halbes Jahr und länger Personal.
Der Bäcker lässt jetzt später backen, damit noch irgendjemand bereit ist, diesen Beruf zu lernen. Auf der Baustelle geht es nicht voran, weil zu wenige Hände zu viel Arbeit vor der Brust haben. Im Altenheim fallen noch mehr Überstunden an, weil zwei Kolleginnen krank sind. Und der Wirt serviert das Vier-Gänge-Menü gratis, wenn der Gast ihm eine Servicekraft vermittelt, das sind nur vier Beispiele aus dem realen Arbeitsleben im Jahr 2022. Eine Branche nach der anderen schlägt Alarm, der Fachkräftemangel, jahrelang als kommendes Megathema angekündigt, wird in dieser Pandemie zum ersten Mal in seiner ganzen Breite spürbar.
Dies, obwohl in Deutschland immer noch 2,3 Millionen Menschen offiziell und weitere 760.000 faktisch arbeitslos sind. Doch oft passt es einfach nicht – und Berufe, die es schon vor der Pandemie schwer hatten, Nachwuchs zu finden, geraten immer stärker unter Druck. Wer von der Schule kommt, überlegt es sich dreimal, ob er etwa in die Krankenpflege geht. Wo doch die Corona-Helden in den Kliniken in Scharen hinschmeißen. Wenn Heldentum viel Arbeit und noch mehr psychische Belastung bei durchschnittlicher Bezahlung bedeutet, wirkt der Bürojob doch gleich viel attraktiver.
Das Ringen um die Arbeitskräfte wird härter
Der demografische Wandel wird in diesem Jahrzehnt erst so richtig durchschlagen, jedes Jahr stehen dem Arbeitsmarkt weniger Menschen zur Verfügung. Der Kampf ums Personal wird härter, schon jetzt versuchen sich die Branchen mit Anwerbeaktionen gegenseitig zu überbieten. Was nur bedeuten kann: Hat eine Erfolg, wird der Mangel der anderen noch größer, schließlich ziehen alle an derselben, schrumpfenden Personaldecke.
Die „wohl am besten prognostizierte Krise der Welt“ nennt der Ökonomen Bert Rürup den Fachkräftemangel. Darauf weist Andreas Ehlert hin, der Präsident der Handwerkskammer Düsseldorf, die auch für das westliche Ruhrgebiet zuständig ist, denn er warnt wie viele Branchenvertreter seit Jahren vor den sich verschärfenden Engpässen und betont: „Für manchen kleineren Handwerksbetrieb ist schon der nächste Mitarbeiter, der in Ruhestand geht, ein existenzielles Risiko.“ Sehr eng sei es im Bau- und Ausbaugewerke, die Betriebe schöben deshalb „Auftragsreichweiten von mehr als zwei Monaten vor sich her“, so Ehlert.
Sonderauswertung der BA fürs Ruhrgebiet
Eine Auswertung der Bundesagentur für Arbeit in NRW für unsere Redaktion zeigt das ganze Ausmaß: Die Liste der Berufe, in denen Betriebe monatelang suchen müssen, bis sie eine freie Stelle besetzen können, wird immer länger. Durchschnittlich dauert das im Ruhrgebiet vier Monate (121 Tage), doch auf dem Bau, in vielen Handwerks- und Gesundheitsberufen beträgt die so genannte Vakanzzeit von der Ausschreibung bis zur Besetzung einer Stelle eher ein halbes Jahr und mehr.
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Es sind teils die bekannten Mangelberufe, in der Altenpflege etwa suchte ein Heim im Jahr 2021 im Schnitt 180 Tage nach einer neuen Pflegekraft. Doch auch Physiotherapeuten, Elektrotechniker, Klempner, Objektschützer und viele mehr sind nur noch sehr schwer zu finden, der Fachkräftemangel ist auch in der Pandemie breiter geworden. Absurd anmutender Spitzenreiter ist im Ruhrgebiet die Berufsgruppe der Servicekraft im Personenverkehr, die etwa die Fahrkarten in Bus und Bahn kontrolliert. Die 185 Stellen, die hier im Ruhrgebiet 2021 besetzt wurden, waren im Schnitt 511 Tage alt. Da nahm sich die Wartezeit auf einen Lokführer mit 177 Tagen noch vergleichsweise kurz aus.
Für die Jugendlichen steigen die Chancen
Die andere Seite der Medaille: Jugendliche sind so gefragt, dass sie sich ihren Arbeitgeber oft aussuchen, was früher umgekehrt war. Viele Betriebe setzen viel mehr auf eigene Ausbildung, weil sie kaum noch Fachkräfte auf dem freien Markt finden. Das betont auch Handwerkspräsident Ehlert: Der hohe Fachkräftebedarf mache 2022 zu einem „Jahr der enormen Chancen“ für Schulabgänger. Das vergangene Jahr stimmt ihn optimistisch, auch mehr Abiturientinnen und Abiturienten für eine Ausbildung zu gewinnen. Tatsächlich wurden im Handwerkskammerbezirk Düsseldorf 2021 im Vergleich zum freilich schwachen Vorjahr 7,8 Prozent mehr neue Ausbildungsverträge abgeschlossen.
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Weil aber jedes Jahr weniger Jugendliche aus den Schulen auf den Arbeitsmarkt drängen, wird Ausbildung allein auch nicht reichen. Arbeitsmarktexperten sehen in mehr Zuwanderung ausländischer Fachkräfte den einzigen Ausweg aus der sich anbahnenden Personalnot. Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit, nennt die Zahl von 400.000 Zuwanderern, die Deutschland jedes Jahr mindestens benötige, andere, wie Stepstone-Chef Sebastian Dettmers in unserem Podcast, schätzen den Bedarf noch höher ein. Sie alle bauen darauf, dass die neue Bundesregierung endlich das von den Arbeitgeberverbänden seit vielen Jahren geforderte moderne Zuwanderungsgesetz hinbekommt.
Nur 3200 Fachkräfte von außerhalb der EU angeworben
Denn von außerhalb der EU kommt kaum jemand auf dem für Fachkräfte in Mangelberufen geebneten Weg ins Land: Die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit hat 2021 rund 3200 Fachkräfte in den deutschen Arbeitsmarkt integriert. Das waren zwar 700 mehr als im Vorjahr, aber gebraucht wird ein Vielfaches. Die ZAV vermittelt Menschen etwa aus Indonesien, Mexiko oder Kolumbien als Pflegekräfte oder Köche.