Essen. Eon-Aufsichtsratschef Kley rechnet mit anhaltend hohen Energiepreisen. Den Atomausstieg bezeichnet er in unserem Interview als inhaltlich falsch.
Als Mitglied diverser Aufsichtsräte wirkt Karl-Ludwig Kley meist im Hintergrund, dies aber an entscheidenden Stellen in Deutschlands Wirtschaft. Seit Jahren führt Kley, der frühere Chef des Chemie- und Pharmakonzerns Merck, die Kontrollgremien des Essener Energieversorgers Eon und der Lufthansa. Bei Eon hört der 71-Jährige in wenigen Wochen auf. Bei der Hauptversammlung am 17. Mai tritt er nicht wieder an. Weitermachen will der Kölner Kley bei der Lufthansa. Im Gespräch mit unserer Redaktion spricht der Multi-Aufsichtsrat offen über seinen Blick auf den Standort Deutschland („bin besorgt“), den Atomausstieg („inhaltlich falsch“) und seine persönliche Eon-Bilanz.
Herr Kley, die Energiepreise in Deutschland sind auf einem Rekordniveau, die Menschen spüren die Folgen der Inflation, die Unsicherheiten durch den Ukraine-Krieg sind groß. Machen Sie sich Sorgen um unser Land?
Kley: Ja, ich bin besorgt. Die Energiepreise in Deutschland waren im weltweiten und auch im europäischen Vergleich schon vor dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs mit die höchsten. Mit dem russischen Angriffskrieg ist die Lage noch schwieriger geworden. Ich denke, wir werden auf absehbare Zeit mit höheren Energiepreisen leben müssen. Und die Inflation bedeutet auch: Die verfügbaren Einkommen der Verbraucher werden geringer sein als in früheren Jahren. Wir sollten aber nicht in Hysterie verfallen. Ich bin noch mit ganz anderen Inflationsraten aufgewachsen.
Gefährden die hohen Energiepreise die industrielle Basis Deutschlands?
Kley: Es gibt schon lange einen schleichenden Prozess, der sich jetzt beschleunigen könnte. In der Chemieindustrie wird das besonders deutlich: In den vergangenen 15 Jahren ist fast jede Großinvestition der heimischen Unternehmen außerhalb Deutschlands erfolgt, weitgehend sogar außerhalb Europas. Das ist alarmierend.
Nicht nur die Industrie, auch Deutschlands Privathaushalte ächzen unter den hohen Energiekosten. Ein Beispiel: In der Grundversorgung im Ruhrgebiet erhöht Eon die Strompreise in der Grundversorgung um rund 45 Prozent.
Kley: Wir haben unsere Kunden lange vor der Preisentwicklung an den Großhandelsmärkten geschützt, können uns davon aber auf Dauer nicht entkoppeln. Aber klar ist: Energie muss bezahlbar bleiben. Wir würden mit Sicherheit ein echtes gesellschaftliches und sozialpolitisches Problem bekommen, wenn hohe Energiepreise Haushalte dauerhaft überfordern.
War der Ausstieg aus der Kernenergie ein Fehler?
Kley: Der Blick in den Rückspiegel bringt uns nicht weiter. Aber ich mache auch keinen Hehl daraus, dass ich den Ausstieg inhaltlich falsch finde. Die deutschen Kernkraftwerke sind – beziehungsweise seit dieser Woche muss ich sagen – waren weltweit die sichersten. Eon hat mit Isar 2 ein hervorragendes Kraftwerk. Mich treibt aber jetzt um, wie es in Zukunft weitergeht. Mit dem Ende der Kernkraft stellen wir praktisch die Forschung an dieser Technologie ein. Dabei wissen wir gar nicht, was in zehn oder zwanzig Jahren noch alles kommen kann. Die Potenziale der Kernforschung bleiben dann in Deutschland ungenutzt. Das ist bitter.
Deutschland, auch Eon, hat sich viele Jahre lang verlassen auf die Gaslieferungen aus Russland. Bedauern Sie das heute?
Kley: Es gab einen großen politischen und gesellschaftlichen Konsens, die Gaslieferungen aus Russland über Jahrzehnte zu erhöhen. Die Russen haben selbst in schwierigsten Zeiten verlässlich geliefert. Russisches Pipeline-Gas war qualitativ hochwertig – und deutlich günstiger als Flüssiggas, das mit dem Schiff nach Deutschland hätte transportiert werden müssen. Aber natürlich ist man immer klüger, wenn man aus der Kirche kommt.
Schon im Jahr 2014 hat Russland die ukrainische Halbinsel Krim erobert und annektiert.
Kley: 2014 wäre der Zeitpunkt gewesen, an dem eine Diskussion über die russischen Gaslieferungen hätte beginnen müssen. Das sage ich auch selbstkritisch.
Wie würden Sie heute handeln?
Kley: Ich glaube nicht, dass es 2014 die richtige Antwort gewesen wäre, sämtliche russische Gaslieferungen
nach Deutschland einzustellen. Aber wir hätten die starke Abhängigkeit von Russland sukzessive verringern und alternative Lieferanten aufbauen müssen.
Sollte eine Lehre aus der Erfahrung mit Russland sein, die wirtschaftliche Verflechtung mit China zu verringern?
Kley: Unser Verhältnis zu China ist anders als zu Russland. Es gibt hier eine viel größere gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit.
Sollte Deutschland generell auf Geschäfte mit Nationen verzichtet, die nicht nach demokratisch-freiheitlichen Maßstäben handeln?
Kley: Das ist eine schwierige Frage. Meine Überzeugung ist: Wir können uns nicht aus allen Ländern zurückziehen, die nicht unserem Wertesystem entsprechen. Denn dann müssten wir uns leider aus sehr vielen Ländern der Welt zurückziehen. Wichtig ist, dass wir bei allem, was wir vor Ort selbst tun, unseren Werten treu bleiben.
Die aktuellen globalen Konflikte gleichen einem Kampf der Systeme.
Kley: Wir sollten das Selbstvertrauen haben, dass die Demokratie auf Dauer das widerstandsfähigere und stärkere System ist. Wir dürfen es uns aber nicht mit unseren Errungenschaften der Vergangenheit gemütlich machen, sondern wir müssen Ambitionen entwickeln.
Was meinen Sie damit?
Kley: Es liegt in unserer Hand, was wir aus der Zukunft machen. Als Innovationsland müssen wir noch viel stärker werden, insbesondere bei Themen wie der Gentechnik und der künstlichen Intelligenz. Dafür müssen Barrieren in der Forschung fallen. Und ich sage: Weg mit der Bürokratie. Professoren sollten ihre Zeit nicht mit Verwaltungstätigkeiten verschwenden, sondern forschen und lehren.
Wenn es in der Wirtschaft zu Krisen kommt, eilt oft der Staat helfend herbei – bei der Lufthansa-Rettung in der Corona-Krise zum Beispiel, auch die ehemalige Eon-Tochter Uniper ist mittlerweile verstaatlicht. Lehrt das – aus Sicht eines Mannes der Wirtschaft – auch eine gewisse Demut?
Kley: Das Wort Demut wäre mir hier nicht in den Sinn gekommen. Für mich ist es eine Binsenweisheit, dass es nicht ohne den Staat geht – das gilt in Krisen ebenso wie in ruhigeren Zeiten. Aber weder kann der Staat alles besser, noch die Wirtschaft. Die Welt ist nicht schwarz oder weiß. Es gibt viele Grautöne.
Der Energiesektor ist mit milliardenschwerer staatlicher Hilfe stabilisiert worden. Gerade auch für die Energiepreisbremsen fließt jede Menge Geld.
Kley: Ja. Im Moment ist es mir ein bisschen viel Staat. Aber wir können nicht auf Dauer alle Defizite, die sich auftun, pauschal mit Geld zuschütten. Wenn wir jetzt immer weiter die Energieversorgung subventionieren, kommen wir irgendwann an einen Punkt, wo der Staat nicht mehr genügend Geld für seine eigentlichen Aufgaben hat.
Wie fällt Ihre persönliche Bilanz nach sieben Jahren an der Eon-Aufsichtsratsspitze aus?
Kley: Lassen Sie mich mal salopp antworten: Es waren irre Jahre. Ich bin wirklich zufrieden und auch ein bisschen stolz auf das, was wir erreicht haben. Vor sieben Jahren war Eon ein Unternehmen mit wenig Eigenkapital und einer schwachen Bilanz. Jetzt sind wir ein kerngesunder Konzern mit einem starken Vorstandsteam um Leonhard Birnbaum. Mit der Übernahme der RWE-Tochter Innogy haben wir uns neue Potenziale erschlossen. Kurzum: Wir sind auf Wachstumskurs.
Sie sind jetzt 71, von Rente mit 67 kann da ohnehin keine Rede sein. Den Eon-Aufsichtsratsvorsitz geben Sie ab, aber bei der Lufthansa möchten Sie das Kontrollgremium weiterhin führen.
Kley: Bei der Lufthansa trete ich für eine weitere dreijährige Amtszeit an, das ist richtig. Bei Eon ist es der richtige Zeitpunkt fürs Aufhören. Jeder Mensch ist in seiner Funktion ersetzbar.
Karl-Ludwig Kley, der zu Hause auf der Couch sitzt und faulenzt – das ist kaum vorstellbar. Oder?
Kley: Ich werde immer etwas arbeiten, wahrscheinlich bis zum letzten Tag. Privat habe ich vor einigen Jahren zwei Waldstücke gekauft – in Niedersachsen und in Brandenburg. Es ist ein wunderbares Gefühl im Wald zu sein und darüber nachzudenken, was ich tun kann, damit irgendwann meine Enkel etwas davon haben.