Essen. Angesichts massiver staatlicher Hilfe für Thyssenkrupp fordert Evonik-Chef Kullmann ähnliche Unterstützung auch für andere Unternehmen in NRW.
Sein Mikrofon sei „sehr weit aufgedreht“, merkt Christian Kullmann an, als er in der Evonik-Zentrale das Wort ergreift, um seine Erwartungen für das Geschäftsjahr 2023 zu beschreiben. „Es dröhnt nachgerade“, sagt Kullmann, aber das sei auch gut so, „denn es macht unsere Botschaften klarer verständlich“. Kameras sind auf ihn gerichtet, um die Evonik-Bilanzpressekonferenz im Internet zu übertragen. Scheinwerfer erzeugen mit ihrem grellen Licht die Atmosphäre eines Fernsehstudios. Kullmann redet sich in Rage. „Wir werden mehr, wir werden härter malochen müssen“, mahnt der Chef des nordrhein-westfälischen Chemiekonzerns, zu dem weltweit rund 34.000 Beschäftigte gehören. „Die Zeit der soziologischen Gruppenseminare, wo wir uns über die Frage der Selbstbefindlichkeiten ausgetauscht haben, ist vorbei“, schickt Kullmann noch hinterher.
Die Lage von Deutschlands Industrie habe sich durch den vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angezettelten Angriffskrieg auf die Ukraine radikal verändert, konstatiert der Konzernchef: „Das Rückgrat der deutschen Energiewende sollten Gaskraftwerke sein. Dieses Rückgrat hat der Diktator Putin zerschmettert.“ Die Chemie- und Pharmaindustrie, zu der bundesweit mehr als 530.000 Mitarbeitende gehören, ist besonders stark auf eine sichere und kostengünstige Energieversorgung angewiesen.
Anders als bei BASF kein Stellenabbau bei Evonik geplant
Vor wenigen Tagen kündigte der deutsche Branchenriese BASF den Abbau von 2600 Arbeitsplätzen an, fast zwei Drittel davon in Deutschland, unter anderem im Stammwerk Ludwigshafen. Wegen hoher Gaspreise will BASF mehrere Chemieanlagen stilllegen, darunter eine für Ammoniak und das Kunststoffvorprodukt TDI.
Ähnliche Abbauprogramme gibt es bei Evonik nicht, wie Evonik-Personalchef Thomas Wessel auf Nachfrage erklärt. Es sei eine „besonders herausfordernde Zeit“, sagt er. Darauf reagiere Evonik bei der Personalplanung. Wo es möglich sei, würden Stellen eine Zeit lang unbesetzt bleiben. Dies sei aber „allemal besser als Personalabbau“. Bis auf Ausnahmen – ein Beispiel sei eine Betriebseinheit mit rund 30 Beschäftigten – gebe es auch keine Kurzarbeit im Konzern, berichtet Wessel. Für 2023 gehe er von einer insgesamt stabilen Beschäftigtenzahl bei Evonik aus. Allein am Standort Marl im nördlichen Ruhrgebiet hat der Essener Chemiekonzern eigenen Angaben zufolge rund 7000 eigene Beschäftigte.
Kosten bei Evonik sollen um 250 Millionen Euro sinken
Gleichzeitig sollen die Kosten bei Evonik sinken. So sind unter anderem Einschränkungen bei Dienstreisen und Messeauftritten sowie beim Einsatz von externen Beratern geplant, wie der Vorstand schon im
vergangenen November angekündigt hat. Überall werde geschaut: „Wo können wir auch noch verzichten?“, so Finanzchefin Ute Wolf, die zum Ende des Monats nach 17 Jahren im Unternehmen ausscheidet. Unter dem Strich will Evonik Einsparungen in Höhe von rund 250 Millionen Euro realisieren.
Vorstandschef Kullmann schwört die Belegschaft auf unruhige Zeiten ein. „Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht“, sagt er mit Blick auf die Ukraine. „Und eine stabile Friedensordnung für eine Zeit nach dem Krieg auch nicht. Wir müssen in Deutschland, aber auch in der Welt mit mehr Unsicherheiten leben als in vielen Jahren zuvor.“ Alte Gewissheiten seien verschwunden. „Günstige Energie kommt verlässlich aus dem Osten: vorbei. China ist die Lokomotive der Weltwirtschaft: ungewiss. Geldentwertung ist kein Thema mehr in den großen Volkswirtschaften: zweifelhaft.“ So viel Unsicherheit mache Menschen nervös. „Wir leben in einer nervösen Republik“, konstatiert Kullmann. „Viele Menschen sind ratlos und resignieren.“
Evonik erwartet Gewinnrückgang im Jahr 2023
Für das laufende Jahr erwartet der Evonik-Vorstand einen Gewinnrückgang. Der bereinigte Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) soll zwischen 2,1 und 2,4 Milliarden Euro liegen und damit unter dem Vorjahresergebnis von knapp 2,5 Milliarden Euro.
Die Dividende von Evonik soll trotz Krisenzeiten bei 1,17 Euro je Aktie stabil bleiben – das entspricht einer Dividendenrendite von etwa fünf Prozent.
Evonik bündelt die Geschäfte in vier Divisionen rund um Produkte für die Pharma-, Kosmetik- und Ernährungsindustrie („Nutrition & Care“), Werkstoffe („Smart Materials“), Additive für die industrielle Anwendung („Specialty Additives“) sowie rohstoff- und energieintensive Basischemie („Performance Materials“). Als „Wachstums-Divisionen“ sieht Vorstandschef Kullmann die drei zuerst genannten Bereiche.
Konzernchef Kullmann macht klar, dass sich Evonik für Krisenzeiten wappnet. „Wenn draußen richtig der Wind pfeift, gehen wir nicht in den Keller und machen die Augen zu. Wir ziehen nicht die Köpfe ein. Sondern wir machen unser Haus wetterfest.“
Werk für Impfstoff-Vorprodukte in den USA gebaut, nicht in Deutschland
Dabei fordert die Konzernführung auch mehr politische Unterstützung ein. Evonik-Vorstand Harald Schwager erinnert in diesem Zusammenhang daran, wie das Unternehmen in der Corona-Krise die Produktion eines wichtigen Impfstoff-Vorprodukts ausgeweitet hat, unter anderem in Hanau bei Frankfurt sowie in Dossenheim bei Heidelberg. Eine neue große Fabrik für Lipide, die in Impfstoffen zum Einsatz kommen, baue Evonik aber nicht in Deutschland, sondern in den USA. Hier bekommt der Essener Chemiekonzern massive Unterstützung der US-Regierung. In Deutschland hingegen sei der Bau „verunmöglicht“ worden, kritisiert Schwager.
„Es kommt mir mitunter in der Berliner Politik etwas provinziell vor“, merkt Kullmann an. „Das ist so ein bisschen politische Bauernpolka – Hauptsache ich bin besser als mein Nachbar im Saal.“ Entscheidend sei aber, dass sich Deutschland im internationalen Wettbewerb mit den USA, China und anderen asiatischen Nationen messen lassen könne. „Da müssen wir besser sein.“
Auf die von Hendrik Wüst (CDU) geführte schwarz-grüne NRW-Landesregierung angesprochen, verweist Kullmann auf die geplante staatliche Förderung für den Bau eines Stahlwerks von Thyssenkrupp am Standort Duisburg in Höhe von rund 700 Millionen Euro. „Ich gratuliere den Nachbarn von Thyssenkrupp zu diesem Lobbyerfolg“, sagt der Evonik-Chef. „Und ich erwarte, dass diese Möglichkeiten auch anderen, tollen, großartigen Unternehmen vom Mittelstand bis zu den Konzernen an Rhein und Ruhr – denn davon haben wir hier viele – angeboten werden.“ Es gebe viele Unternehmen mit Produkten, die im Weltmaßstab erfolgreich seien, so Kullmann. Diese Firmen zu unterstützen, „heißt Zukunft zu schaffen“.