Essen. Die Chemieindustrie blickt mit Sorge auf die Gasversorgung. Versorgungsengpässe könnten sich laut VCI über verschiedene Regionen aufbauen.

Deutschlands Chemieindustrie bereitet sich auf einen möglichen Gasmangel vor. Mit Sorge blickt Jörg Rothermel, der Energieexperte des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), auf das Szenario, das bald kein Erdgas mehr durch die wichtige russische Pipeline Nordstream 1 fließen könnte. „Wenn Nordstream 1 nicht wieder ans Netz geht, rechnen wir mit ersten Gasmangellagen im Herbst oder Winter“, sagt Rothermel.

Deutschlands Chemieindustrie, zu der Unternehmen wie Bayer, BASF, Covestro und Evonik gehören, sieht sich als größter Gasverbraucher der Republik. Rund 15 Prozent des gesamten Erdgases, das in Deutschland zum Einsatz kommt, entfallen auf die Branche. Ohne Gas müssten Produktionsanlagen heruntergefahren werden.

„Eine Gasmangellage könnte sich langsam über verschiedene Regionen aufbauen“, erklärt Rothermel. „Wir werden einen Gasmangel nicht gleichzeitig in Deutschland sehen und auch nicht flächendeckend.“ Der Osten und Süden des Landes würden im Ernstfall nach Einschätzung des Experten zuerst betroffen sein, eine Mangellage in NRW werde später auftreten. „Wir rechnen mit regionalen Mangellagen. Da nützt es nichts, wenn ein Unternehmen in Hamburg aus Solidarität auf Gas verzichtet, weil es in München fehlt.“

Kullmann warnt vor „Herzinfarkt der deutschen Wirtschaft“

Der Präsident des VCI ist derzeit Christian Kullmann, der Chef des Essener Konzerns Evonik. „Für den Fall eines vollständigen Gas-Embargos befürchte ich den Herzinfarkt der deutschen Wirtschaft, auch unserer Branche“, sagte Kullmann vor wenigen Tagen der „Süddeutschen Zeitung“. Ohne Chemie stehe dieses Land still, „denn chemische Produkte werden für 90 Prozent aller Produktionsprozesse benötigt“. Die Folgen für die Beschäftigten wären nach Kullmanns Einschätzung gravierend. „Es droht eine schlimme Krise, auch gesellschaftlich und sozial.“ Der VCI vertritt eigenen Angaben zufolge Unternehmen mit bundesweit rund 530.000 Beschäftigten.

Private Haushalte sind derzeit besonders geschützt, sollte es zu Versorgungsengpässen beim Erdgas kommen. „In der Diskussion, wo Einsparungen möglich sind, darf es keine Tabus geben“, fordert VCI-Experte Rothermel indes. „Sowohl die Industrie als auch Privathaushalte sollten einen Beitrag leisten. Wir sitzen alle im selben Boot.“

„Müssen uns dauerhaft auf erhöhte Gaspreise einstellen“

Der VCI geht davon aus, dass die Branche mit dem Einsatz anderer Brennstoffe wie Heizöl und Kohle kurzfristig lediglich zwei bis drei Terawattstunden Erdgas sparen kann. Insgesamt benötigt die Chemie- und Pharmabranche rund 135 Terawattstunden Gas im Jahr – davon etwa 100 als Energieträger und 35 als Rohstoff für die Produktion. Wasserstoff sei „bislang nur eine theoretische Alternative“ zum Erdgas. „Wir haben derzeit keinen Wasserstoff, den wir kurzfristig einsetzen könnten.“

„Wir müssen uns dauerhaft auf erhöhte Gaspreise einstellen“, prognostiziert Jörg Rothermel. Angesichts der hohen Energiekosten rechnet der Branchenverband mit Produktionsverlagerungen ins Ausland. „Es ist davon auszugehen, dass die Unternehmen bestimmte Produkte wie etwa Ammoniak wegen der hohen Energiepreise verstärkt importieren oder im Ausland produzieren werden“, sagt Rothermel.