Essen. Evonik-Chef Christian Kullmann im Krisenmodus: „Die Lage ist ernst“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Daher erwäge Evonik Kurzarbeit.

Evonik-Chef Christian Kullmann bereitet die Beschäftigten des Essener Chemiekonzerns auf harte Zeiten vor. „Die Lage ist ernst. Die Krise ist tief und wird lange dauern“, sagt Kullmann im Gespräch mit unserer Redaktion. „Ich erwarte eine harte, schwierige und entbehrungsreiche Zeit.“ Der Ukraine-Krieg werde massive Auswirkungen auf Deutschlands Wirtschaft haben. „Wir zahlen jetzt den Preis der Solidarität“, bemerkt Kullmann. Zugleich betont er, es sei richtig, „dass wir an der Seite der Ukraine stehen, daher werden wir diesen Preis zahlen müssen“.

Deutschlands Wirtschaft stehe im Wesentlichen auf zwei Säulen, analysiert der Evonik-Chef. Damit meine er einerseits technologische Kompetenz, andererseits eine sichere und bezahlbare Energieversorgung. „Die zweite Säule hat nun tiefe Risse bekommen.“ Evonik sei allerdings „in der glücklichen Position“, die eigene Energieversorgung gesichert zu haben. Am wichtigen Standort Marl habe Evonik das konzerneigene Gaskraftwerk mit Hilfe des Aral-Mutterkonzerns BP auf Autogas umstellen können. Ein Kohlekraftwerk läuft zudem länger als ursprünglich geplant. Für Evonik könne er nun sagen: „Es ist uns gelungen. Wir sind unabhängig von russischem Gas.“

Selbstkritisch äußert sich Kullmann, wenn es um Russland geht. „Selbstverständlich haben wir Fehler gemacht“, sagt er. „Wir haben die Diktatur in Moskau falsch eingeschätzt.“ So forderte Kullmann noch vor zwei Jahren vehement einen Start der umstrittenen russischen Pipeline Nord Stream 2. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir einmal auf russisches Gas werden verzichten müssen“, sagt Kullmann heute.

Im Zusammenhang mit der Energiekrise erinnert sich der Evonik-Chef auch an einen Anruf von Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). „Wirtschaftsminister Habeck hat uns gebeten, unser Kohlekraftwerk in Marl weiterlaufen zu lassen. Das tun wir auch, und es hilft uns über diesen Winter“, erklärt Kullmann. Das Kohlekraftwerk trage nun im Unternehmen den Spitznamen Felix – der Glückliche.

„Wir kippen nicht um, wir werden in diesem Jahr unsere Ziele erreichen“

Wie lange das Kohlekraftwerk in Marl weiterlaufen werde? „Wenn es nach mir geht: Solange wie nötig“, sagt der Manager. Auf ein Ausstiegsdatum will er sich nicht festlegen – auch nicht bei der Atomkraft. „Wir müssen pragmatisch sein. Das heißt: Wir sollten sämtliche Anlagen zur Energieerzeugung nutzen, die uns zur Verfügung stehen. Wind, Sonne, Kohle, Geothermie, Erdgas und auch die Kernkraft. Es ist jetzt nicht die Zeit für Ausstiege.“

Zur wirtschaftlichen Perspektive von Evonik sagt Kullmann: „Wir kippen nicht um, wir werden in diesem Jahr unsere Ziele erreichen.“ Der Ausblick von Evonik sieht einen Gewinn (bereinigtes Ebitda) zwischen 2,5 Milliarden und 2,6 Milliarden Euro für das laufende Geschäftsjahr vor. Zuvor waren es 2,38 Milliarden Euro.

Mit Blick auf das kommende Jahr äußert sich der Konzernchef allerdings zurückhaltend. „Klar ist auch: Wenn unsere Kunden leiden, leiden wir mit. Deshalb kann ich perspektivisch Kurzarbeit nicht ausschließen“, sagt Kullmann. Kurzarbeit habe den Zweck, in Krisenzeiten Beschäftigung zu sichern. „Bei Evonik wird es keine betriebsbedingten Kündigungen geben.“

Evonik sieht sich als ein weltweit führendes Spezialchemie-Unternehmen – mit rund 33.000 Beschäftigten in mehr als 100 Ländern. Mit dem Konzernsitz in Essen und dem Produktionsstandort Marl, wo das Unternehmen rund 7000 Menschen beschäftigt, ist Evonik einer der großen Arbeitgeber in NRW.

„Ruhrgebiet wird durch die Krise wuchtig getroffen“

Das Ruhrgebiet habe in der gegenwärtigen Situation besonders zu kämpfen, gibt Kullmann zu bedenken. „Das Ruhrgebiet wird durch die Krise wuchtig getroffen“, sagt er. „Wir sind ein industrieller Ballungsraum mit hohem Energiebedarf. Wenn die Energiepreise steigen, wirkt sich das hier bei uns besonders stark aus.“

Evonik bündelt die Geschäfte in vier Divisionen rund um Produkte für die Pharma-, Kosmetik- und Ernährungsindustrie („Nutrition & Care“), Werkstoffe („Smart Materials“), Additive für die industrielle Anwendung („Specialty Additives“) sowie rohstoff- und energieintensive Basischemie („Performance Materials“). Als „Wachstums-Divisionen“ sieht Vorstandschef Kullmann die drei zuerst genannten Bereiche.

Zum Bereich „Performance Materials“ gehört auch die sogenannte C4-Chemie, von der sich der Evonik-Vorstand trennen will. Rund 1000 Stellen sollen mit dem Verkauf des Geschäfts, das insbesondere in Marl beheimatet ist, entfallen. „Die Ausgliederung geht planmäßig voran“, sagt Kullmann. „Wir haben keinen Druck. Einen Verkauf gibt es nur bei einem guten Preis mit einer sinnvollen Perspektive.“

Um unternehmerische Risiken – etwa durch eine Eskalation im Konflikt von China und Taiwan – zu minimieren, setzt Evonik auf eine Aufstellung über verschiedene Kontinente hinweg. „Geopolitik ist schon lange auf unserem Radar“, sagt Kullmann. „Unsere Strategie ist seit geraumer Zeit, in den verschiedenen Weltregionen mit eigenen Produktionskapazitäten präsent zu sein. Zuletzt haben wir massiv in den USA investiert, in Asien sind wir schon länger stark.“

Wasserstoff? „So, wie wir es angehen, droht es eine Pleite zu werden“

Mit Blick auf Deutschland fordert Kullmann mehr Tempo beim Umbau des Energiesystems. Deutschland sei hier „viel zu langsam“, bemängelt er. „Uns fehlen Stromleitungen mit der Länge von 10.000 Kilometern. Es ist ein schweres Versäumnis der Regierungen im Bund und in den Ländern, dass es hier kaum vorangeht. Jährlich bauen wir im Schnitt gerade mal rund 60 Kilometer neue Leitungen, nötig wäre die Strecke von Berlin nach Venedig, also mehr als 1000 Kilometer pro Jahr.“

Zu viel Bürokratie bremse den Fortschritt, urteilt der Evonik-Chef. „Bis wir in Deutschland ein Windrad in Betrieb nehmen können, vergehen sechs Jahre. In dieser Zeit wird in China ein ganzer Flughafen gebaut. Das ist einfach zu schlecht.“ Um die Energiewende voranzubringen, „müssten die Einspruchsrechte der Bürgerinnen und Bürger rustikal zurechtgeschnitten werden“, fordert der Manager.

Auch beim Aufbau einer Wasserstoff-Wirtschaft sieht Kullmann Defizite. „Wasserstoff bietet unglaubliche Potenziale für das Ruhrgebiet“, sagt er. „Doch so, wie wir es angehen, droht es eine Pleite zu werden. Es tut sich viel zu wenig. Wir brauchen jetzt die Pipelines – und Elektrolyseure zur Wasserstoffproduktion.“

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Das Ruhrgebiet positioniere sich zudem nicht gut genug, kritisiert Kullmann. „Das Ruhrgebiet braucht eine starke Stimme, um in Deutschland, in Europa und in der Welt Gehör zu finden. Davon sind wir leider weit entfernt“, sagt er. „Im Ruhrgebiet wird weiter die Kleinstaaterei gelebt. Die politischen Strukturen sind alt und verkalkt.“ Es seien Entscheidungsstrukturen notwendig, die der Größe der Region gerecht würden. „Doch stattdessen verlieren sich viele Kommunalparlamente im Klein-Klein.“

Kullmann über „die Matjes von Werder Bremen“

Sein Verhältnis zur schwarz-grünen NRW-Landesregierung sei indes gut, betont Kullmann. Er schätze Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sehr. Zur grünen Wirtschaftsministerin Mona Neubaur, mit der Kullmann bekanntlich per Du ist, sagt er, sie habe „ein pragmatisches Herangehen an Herausforderungen“ und viele Ideen. „Das finde ich toll.“

Seit Jahren gehört Evonik zu den Sponsoren des Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund. Als Vorsitzender des Aufsichtsrats hat Kullmann großen Einfluss beim BVB. „Keiner kann heute glücklich sein, der ein Fan von Borussia Dortmund ist“, kommentiert Kullmann den bisherigen Saisonverlauf und erinnert an eine besonders bittere Niederlage. „Wir vom BVB wollen ein Orca sein. Und dann kommen die Matjes von Werder Bremen zu uns ins Stadion und schwimmen mit dem Sieg davon. Das tat weh.“ Aber die Hinrunde sei noch nicht vorbei, sagt Kullmann auch, „und die Rückrunde wird besser“.