Essen. 2022 drohen noch mehr Lehrstellen unbesetzt zu bleiben. „Fachkräftenot“ gefährde unseren Wohlstand, warnen die Kammern und fordern ein Umdenken.
Dass es in Deutschland einen Fachkräftemangel gebe, war noch vor wenigen Jahren heftig umstritten. Bei Millionen Arbeitslosen könne das ja wohl nicht sein, die Betriebe müssten eben mehr ausbilden und auch mal Ältere und weniger qualifizierte Bewerber einstellen, lauteten die gängigsten Gegenargumente. Der Wirtschaft geht der Begriff „Mangel“ dagegen schon als Untertreibung. Von „Fachkräftenot“ sprechen Handwerk, Handel und Industrie. Sie gefährde „den Wirtschaftsstandort NRW und damit auch unseren Wohlstand und letztlich die Versorgungsleistungen für private Haushalte und Unternehmen“, heißt es in einem gemeinsamen Papier des Westdeutschen Handwerkskammertages (WHKT) und der Industrie- und Handelskammern (IHK) NRW.
Die Dachverbände der Kammern appellieren in diesem Papier an die künftige Landesregierung, die betriebliche Ausbildung zu stärken. Denn derzeit mangelt es dem Ausbildungsmarkt nicht mehr an Stellen, sondern an Bewerberinnen und Bewerbern. Seit 2020 können in NRW mehr als 10.000 Lehrstellen pro Jahr nicht besetzt werden, 2021 waren es landesweit 11.400, in diesem Jahr droht der dritte Negativrekord in Folge, vor dem Endspurt des Ausbildungsjahres waren im März noch knapp 60.000 Plätze verwaist – 8000 mehr als ein Jahr zuvor.
Auch im Ruhrgebiet vielerorts mehr Lehrstellen als Bewerber
Neu ist, dass selbst im Ruhrgebiet, das über Jahrzehnte einen chronischen Lehrstellenmangel beklagen musste, die Betriebe in den meisten Städten mehr Plätze anbieten als junge Menschen Interesse an einer Ausbildung zeigen. „Die duale Ausbildung hat sich im vergangenen Jahrzehnt komplett gedreht, heute gibt es mehr unbesetzte Stellen als es Bewerberinnen und Bewerber gibt. Ein Azubi kann sich heute aussuchen, in welche Richtung er geht“, betont IHK-NRW-Präsident Ralf Stoffels im Gespräch mit unserer Zeitung.
Während die Betriebe der Bundesagentur für Arbeit bis März mit 91.000 deutlich mehr Ausbildungsplätze angeboten haben als im Vorjahr, sank die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber weiter ab – auf nur noch 79.000. Mehr Stellen als Bewerbungen gibt es landesweit seit Jahren, das Ruhrgebiet ist rechnerisch noch nicht so weit – hier kommen auf 100 Bewerberinnen und Bewerber nur 97 Stellen. Den Schnitt ziehen jedoch wenige stark unterversorgte Städte nach unten, vor allem Gelsenkirchen mit 72 Stellen für 100 Interessierte. Duisburg, Oberhausen, Bochum und Dortmund liegen dagegen bereits im Landestrend.
Auch interessant
Die Folgen sind längst für jeden im Alltag zu spüren: Wer einen Handwerker braucht, muss monatelang warten, der Gastronomie gehen Küchen- und Servicekräfte aus, auch die Industrie muss um Nachwuchs kämpfen. „Man kann die Situation gar nicht überzeichnen: Uns fehlen massiv Fachkräfte im Handwerk. Betriebe brauchen aktuell fast ein Jahr, um die Stelle eines Klempners zu besetzten“, sagte WHKT-Präsident Berthold Schröder unserer Zeitung. Und warnt: „Die Erwartung ist ja, dass sich die Lage aufgrund der Demografie weiter verschlimmern wird. Es kommen einfach viel weniger junge Menschen nach als Ältere in Rente gehen.“
Forderungen: Azubi-Wohnheime und Begabtenförderung
Die Kammern aus Handwerk, Industrie und Handel, deren Mitglieder nach eigenen Angaben für vier von fünf Ausbildungsplätzen in NRW stehen, rufen deshalb die künftige NRW-Landesregierung dazu auf, die berufliche Bildung zu stärken. Besonders an den Gymnasien müsse die Berufsorientierung einen deutlich höheren Stellenwert erhalten. Die Praxisphasen müssten ausgeweitet, über die berufliche und akademische Bildung gleichwertig informiert werden, so die Forderungen. An den unter Lehrkräftemangel leidenden Berufsschulen müsse die duale Ausbildung Vorrang erhalten.
Zur politischen Gleichbehandlung von Studium und Ausbildung gehört für die Kammern auch, die Azubi-Tickets für den öffentlichen Nahverkehr genauso stark zu fördern wie die Semestertickets. Zudem müsse es wie für Studierende auch für Azubis Wohnheime geben, damit Ausbildungen seltener daran scheitern, dass die Wunschstelle nicht im Heimatort angeboten wird. Auch müssten besonders begabte Azubis stärker gefördert werden, dafür solle ähnlich viel Geld fließen wie für die Exzellenzinitiativen, in deren Rahmen die NRW-Hochschulen eine halbe Milliarde Euro pro Jahr erhielten.
Kritik an zu vielen Studiengängen
Dass die allermeisten Abiturientinnen und Abiturienten nach wie vor studieren und eine Ausbildung gar nicht erst in Erwägung ziehen, wurmt die Kammern besonders. „Im Handwerk sind die beruflichen Aussichten in vielen Bereichen viel besser als in manchen Studiengängen“, meint HWKT-Präsident Schröder. Und: „Wir haben in Deutschland 13.500 Bachelorstudiengänge, wenn man junge Menschen in Studiengänge hinein manövriert, wo vorher klar ist, dass sie im Anschluss keine einem Ausbildungsberuf adäquate Beschäftigung finden, sehe ich eine Fehlsteuerung in der Bildungspolitik.“
IHK-NRW-Präsident Stoffels betont: „Unternehmen suchen heute vor allem beruflich Qualifizierte mit praktischer Erfahrung. Wenn ein halber Jahrgang studiert, sind Enttäuschungen bei den Hochschulabsolventen vorprogrammiert, mehr als ein Drittel bricht sein Studium ab.“