Essen. Der Bochumer Rentenexperte Martin Werding soll Sachverständiger werden. Mit Achim Truger stellt das Revier dann zwei von vier Wirtschaftsweisen.

Die Stimmen der fünf Wirtschaftsweisen sind weniger und leiser geworden. Nachdem die SPD vor gut einem Jahr dem Vorsitzenden Lars Feld eine dritte Amtszeit versagte und Volker Wieland in diesem April hinwarf, waren es nur noch drei. Nun soll nach Achim Truger von der Uni Duisburg-Essen ein weiterer Ökonom aus dem Ruhrgebiet dem Gremium zu alter Stärke verhelfen: Martin Werding von der Bochumer Ruhr-Universität.

Beide sind auf den Feldern der Sozialökonomie und der Staatsfinanzen zu Hause, trotzdem könnten sie unterschiedlicher kaum sein: Truger kam auf Vorschlag der Gewerkschaften in den Sachverständigenrat, Werding wurde nun von der Arbeitgeberseite vorgeschlagen. Der eine steht für einen möglichst starken Sozialstaat, der andere für einen bezahlbaren. Damit bilden sie die natürlichen Gegenpole im wichtigsten wirtschaftspolitischen Beratergremium der Bundesregierung, in das die Tarifpartner je einen Wunschkandidaten schicken können.

Vorgänger Wieland hatte überraschend hingeworfen

Der bisherige Mann der Arbeitgeber, Wieland, war vor sechs Wochen vorzeitig und völlig überraschend ausgeschieden. Aus privaten Gründen, erklärte er, verteilte aber noch einen Seitenhieb auf die Bundesregierung, die den seit einem Jahr vakanten Sitz von Lars Feld noch immer nicht nachbesetzt hat. Dass deshalb in dem Gremium über wichtige Fragen wie die Aufweichung der Schuldenbremse plötzlich ein Patt herrschen konnte, hielt Wieland für falsch.

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Wohl auch, weil ihm mit Feld ein marktliberaler Mitstreiter und damit dem Sachverständigenrat die jahrzehntelange Dominanz dieser Denkschule abhanden gekommen war. Denn die Energieexpertin Veronika Grimm und die Wettbewerbsökonomin Monika Schnitzer sind nicht eindeutig zu verorten, sondern denken von Thema zu Thema.

So stimmte Schnitzer im Jahresgutachten 2021 bei besagtem Patt überraschend mit Truger für eine Reform der starren Schuldengrenze. Und Grimm zog unlängst mit ihrer These, Deutschland könne sich ein Gasembargo gegen Russland leisten, den Groll des Kanzlers und sämtlicher Wirtschaftsverbände auf sich. In welche Richtung sich die Waage neigt, ist offen – die Bundesregierung will auch den fünften Sitz dem Vernehmen nach bald wieder besetzen.

Martin Werding gilt als kühler Rechner

Werding möchte noch nicht über seine neue Aufgabe als Wirtschaftsweiser reden. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hat ihn zwar nominiert und die Berufung gilt nur noch als Formalie. Doch es fehlen Kabinettsbeschluss und Unterschrift des Bundespräsidenten. Die Pressestelle der Ruhruni ließ immerhin wissen: „Der Wissenschaftler freut sich über die Nominierung.“ Und Uni-Kanzlerin Christina Reinhardt twitterte: „Eine sehr gute Wahl“. Dass Werding sich lieber an letzte Fakten orientiert als ihnen vorzugreifen, sagt bereits einiges über seine Arbeitsweise und sein Auftreten aus.

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Der gebürtige Leverkusener folgt Wieland auf dem Arbeitgeberticket, aber mutmaßlich nicht im Stil einer offensiven, lauten Außendarstellung. Werding wird wie seit vielen Jahren versuchen, Fakten für sich sprechen zu lassen. So wie als Leiter der Sozialstaatskommission der BDA, als deren Vorsitzender er auch unpopuläre Vorschläge machte, wie Deutschland unter der Grenze von 40 Prozent an Sozialabgaben bleiben könne. Oder als Berater der FDP, für die er den Vorschlag einer gesetzlichen Aktienrente entwickelte, die es mit Abstrichen in den Koalitionsvertrag der Ampel schaffte. Basis für seinen Rat ist stets ein breites Zahlenfundament für alle denkbaren Szenarien.

Dem Sachverständigenrat kein Unbekannter

Der Inhaber des Lehrstuhls für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhruni ist auch dem Sachverständigenrat alles andere als unbekannt, deren Rententhesen im Gutachten 2020 gingen zu großen Teilen auf ein Papier von Werding zurück, das er für die Weisen verfasste. Wenn der Volkswirt etwas mit dem Gewerkschafts-Weisen Truger gemein hat, dann wohl die ruhige Art. Der in Duisburg lehrende Kollege betonte nach Werdings Nominierung denn auch, die bisherigen Kooperationen mit ihm seien „bereits ausgezeichnet“ gewesen.

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Mit seinen Rententhesen steht Werding aber keineswegs auf einer Linie mit Truger, dafür umso mehr mit dem 2020 ausgeschiedenen Chefwirtschaftsweisen Christoph Schmidt, der ebenfalls in Bochum doziert. Der Präsident des Essener RWI-Leibniz-Instituts kritisierte die Rentenpakete der großen Koalitionen seit 2013 als zu teuer und systemfremd. Die neue Ampelregierung darf nun damit rechnen, von Werding aufgezeigt zu bekommen, wann die gesetzliche Rentenversicherung den Staat an seine finanziellen Grenzen bringt, wenn die Demografie weiter ignoriert wird.

Länger arbeiten und selbst vorsorgen für sichere Renten

Der ausgewiesene Experte für Rentenpolitik und Staatsfinanzen warnt seit Jahren vor den Folgen der Alterung unserer Gesellschaft: Entweder steigen die Rentenbeiträge ab 2025 stark an, wenn die von der Politik bis dahin gesetzte Untergrenze des Rentenniveaus von 48 Prozent wegfällt – was die Ampel-Koalition aber nicht will. Oder der erforderliche Steuerzuschuss, um diese Linie zu halten, würde bedenklich ansteigen. Beides hielte Werding für nicht nachhaltig. Er plädiert daher unter anderem für eine Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung und für eine stärkere kapitalgedeckte Eigenvorsorge. Gehör in der Regierung wird er damit finden – freilich eher bei der FDP als bei SPD und Grünen.