Essen. Wirtschaftsweise raten zu höheren Steuern für Besserverdienende und Entlastung Ärmerer. Lindner soll geplanten Progressionsabbau verschieben.

Deutschlands einflussreichste Regierungsberater in ökonomischen Fragen raten Finanzminister Christian Lindner (FDP) von seinen geplanten Steuersenkungen im kommenden Jahr ab. Stattdessen empfehlen die fünf Wirtschaftsweisen eine befristete Erhöhung des Spitzensteuersatzes oder die Einführung eines Energiesoli, den nur Besserverdiener zahlen sollen.

Kreise der Weisen bestätigten unserer Redaktion, dass dies Kern ihres Jahresgutachtens sei, das am Mittwoch in Berlin vorgestellt wird. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) hatte zuerst darüber berichtet. Bemerkenswert ist, dass die Steuererhöhungs-Vorschläge des Sachverständigenrates nach Informationen unserer Redaktion einstimmig beschlossen wurden. In dem mit gewerkschaftsnahen bis marktliberalen Ökonominnen und Ökonomen breit besetzten Gremium herrscht demnach Einigkeit darüber, dass Lindner derzeit in die falsche Richtung steuert.

Die Reallöhne sinken durch Progression stärker

Die Betonung des geballten Wirtschaftssachverstands liegt dabei aber auf „derzeit“. Grundsätzlich hält das Gremium Lindners Plan, die kalte Progression in mehreren Schritten abzuschaffen, für richtig. Damit ist der negative Einkommenseffekt gemeint, der entsteht, wenn Beschäftigte durch eine Lohnerhöhung in einen höheren Steuertarif rutschen und für sie netto sehr wenig oder gar nichts vom Bruttoplus übrig bleibt. Bei der aktuellen Rekordinflation von mehr als zehn Prozent fällt das besonders ins Gewicht, die kalte Progression lässt die Reallöhne noch stärker sinken als sie es derzeit ohnehin tun.

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Der FDP-Chef und Finanzminister will deshalb im kommenden Jahr 15,8 Milliarden und 2024 weitere 29,3 Milliarden Euro in die Hand nehmen, um den Mittelstandsbauch abzuspecken, wie die kalte Progression auch genannt wird. Denn sie führt, gemessen am Bruttoeinkommen, zu einer überdurchschnittlichen Belastung der mittleren Einkommensstufen.

Mittelstandsbauch soll weg – aber nicht jetzt

Das halten Ökonomen jeder Ausrichtung für ungerecht und die Abschaffung der Progression deshalb perspektivisch für geboten. Aber nicht jetzt: „In der aktuellen Situation, in der vor allem eine Entlastung unterer Einkommensgruppen geboten erscheint und die Lage der öffentlichen Finanzen angespannt bleibt, wäre eine Verschiebung dieses Ausgleichs auf einen späteren Zeitpunkt angezeigt“, zitiert die SZ aus dem Gutachten.

Das Frühjahrsgutachten stellten Ende März noch Monika Schnitzer (v.l.n.r.), Achim Truger, Volker Wieland und Veronika Grimm vor. Wieland trat kurz darauf zurück, inzwischen ist Schnitzer die Vorsitzende des Sachverständigenrats.
Das Frühjahrsgutachten stellten Ende März noch Monika Schnitzer (v.l.n.r.), Achim Truger, Volker Wieland und Veronika Grimm vor. Wieland trat kurz darauf zurück, inzwischen ist Schnitzer die Vorsitzende des Sachverständigenrats. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Dass die Geringverdiener bei den bisherigen Hilfspaketen zu kurz gekommen seien, beschreiben die Wirtschaftsweisen in ihrem Gutachten als Versäumnis der Bundesregierung. Denn von Maßnahmen wie Tankrabatt, Neun-Euro-Ticket und der Energiepauschale haben auch Gutverdienende profitiert, dieses Gießkannenprinzip und der fehlende Fokus auf jene, die Hilfe in der aktuellen Krise am nötigsten hätten, haben mehrere Sachverständige in den vergangenen Monaten kritisiert, allen voran Veronika Grimm und Achim Truger.

Truger favorisiert Energiesoli für Topverdiener

Deshalb sollten nun vordringlich „Haushalte entlastet werden, die die Energiepreise nicht verkraften können“, heißt es im Jahresgutachten der Weisen. Zur Gegenfinanzierung wollen sie die Bürgerinnen und Bürger am anderen Ende der Gesellschaft heranziehen. Truger, Sozioökonom an der Uni Duisburg-Essen, sagte vor wenigen Wochen unserer Zeitung, wen genau er im Blick hat: „Falls wegen der Energiekrise oder dauerhaft höhere Ausgabenbedarfe entstehen, wäre eine Steuererhöhung mittelfristig die beste Lösung – etwa ein Energiekrisen-Soli für Einkommensklassen, die aktuell noch den Restsoli zahlen“, so der von den Gewerkschaften für den Rat nominierte Finanzexperte. Das sind seit 2021 nur noch die oberen zehn Prozent der Steuerzahler, den vollen Satz zahlten nur rund drei Prozent.

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Dieser nun von allen Wirtschaftsweisen getragene Vorschlag hat zumindest bessere Chancen als die Alternative einer Anhebung des Spitzensteuersatzes. Das träfe deutlich mehr Menschen, die 42 Prozent greifen ab einem Jahreseinkommen von knapp 60.000 Euro, während der volle Soli erst ab knapp 100.000 Euro fällig wird. Aus der Union kamen am Dienstag prompt Stimmen, das sei mit den Christdemokraten auf gar keinen Fall zu machen. Nur die Linke fand volle Zustimmung für die Vorschläge – ein Lob aus sehr ungewohnter Richtung für den Sachverständigenrat.

Finanzminister Lindner will Krisengewinne des Staates zurückgeben

Dass die Ampel den Wirtschaftsweisen folgt und die Steuern für Besserverdiener anhebt, wird Finanzminister Lindner mit aller Macht verhindern wollen. Sein liberales Credo lautet dieser Tage, der Staat müsse seine inflationsbedingten Mehreinnahmen den Bürgerinnen und Bürgern zurückgeben – und die Steuern senken. Warum sie das in der aktuellen Krisensituation für falsch hielte, sagte Volkswirtin Grimm unlängst der Rheinischen Post: „Eine Reform, bei der nominal die Besserverdienenden mehr gewinnen, kommt einfach zum falschen Zeitpunkt.“

Die Neuen im Sachverständigenrat: Ulrike Malmendier und Martin Werding von der Ruhruniversität in Bochum komplettieren seit August das wichtigste Beratergremium der Bundesregierung.
Die Neuen im Sachverständigenrat: Ulrike Malmendier und Martin Werding von der Ruhruniversität in Bochum komplettieren seit August das wichtigste Beratergremium der Bundesregierung. © dpa | Edward Caldwell

Der Sachverständigenrat ist erst seit drei Monaten wieder komplett, seit das Kabinett im August die Inflationsforscherin Ulrike Malmendier und den Bochumer Rentenexperten Martin Werding ins lange Zeit unterbesetzte Gremium berief. Vorsitzende ist seit kurzem die Wettbewerbsökonomin Monika Schnitzer. Die früher in vielen abweichenden Minderheitsvoten dokumentierte Vielstimmigkeit der fünf Weisen ist mit den Neuzugängen aber offenkundig nicht zurückgekehrt. Sie diente den Regierenden jahrelang als willkommene Ausrede dafür, dem Rat ihrer Sachverständigen nicht folgen zu müssen, wenn die weisen Damen und Herren sich nicht einmal selbst einig seien. Vor einem Jahr gipfelte das in einem Patt der seinerzeit vier Sachverständigen bei der zentralen Frage, ob die Schuldenbremse angesichts der anhaltenden Krisenlage aufgeweicht werden solle oder nicht.