Essen. Entwarnung bei Evonik: Im Fall eines russischen Gas-Lieferstopps sei die Produktion „weitestgehend gesichert“. Evonik setzt auf Alternativen.
Schon früh hat Evonik-Chef Christian Kullmann eindringliche Warnungen ausgesprochen. „Ohne Gasversorgung stehen unsere Werke innerhalb kurzer Zeit still“, sagte Kullmann Ende März. Deutschlands Industrie müsse sich auf „ein dramatisches Szenario vorbereiten, das droht, sollten wir von der russischen Gasversorgung abgeklemmt werden“, mahnte Kullmann. „Die Schäden wären immens.“ Es drohe eine Kettenreaktion mit massiven Folgen für Branchen wie die Auto- und die Bauindustrie, aber auch medizinische Bereiche. Ohne Chemie – so Kullmanns Befürchtung – gebe es keine Lacke mehr für Autos, keine Dämmstoffe für den Bau, auch keine Verpackungen für Medikamente.
Etwas mehr als vier Monate später gibt der Konzernchef zumindest für sein Unternehmen Entwarnung. Die Energieversorgung an den europäischen Standorten von Evonik sei „auch für den Fall eines Gasstopps aus Russland weitestgehend gesichert“, berichtet Kullmann nun. Im Laufe der vergangenen Wochen hat sich der Essener Chemiekonzern systematisch gewappnet, um die Produktion auch im Falle eines Gasmangels möglichst aufrechterhalten zu können. Evonik sei es gelungen, sich „deutlich unabhängiger von Erdgas“ zu machen, teilte das Unternehmen am Montag (8. August) mit. Bis zu 40 Prozent des Erdgasbezugs in Deutschland könnten „ohne eine nennenswerte Einschränkung der Chemieproduktion“ ersetzt werden.
Aus Sicht von Evonik galt es zu verhindern, dass Anlagen im eng verknüpften Produktionsverbund bei einem plötzlichen Produktionsausfall Schaden nehmen könnten. Viele Aggregate an den Chemiestandorten ließen sich nicht einfach runterfahren, heißt es. Daher sei es wichtig, dass die Anlagen selbst im Fall eines russischen Lieferstopps laufen. Mit dem Konzernsitz in Essen und dem Chemiestandort Marl, wo das Unternehmen rund 7000 Menschen beschäftigt, ist Evonik einer der großen Arbeitgeber in NRW.
Zusammenarbeit von Evonik mit BP-Raffinerie in Gelsenkirchen-Scholven
Am wichtigen Standort Marl ersetzt Evonik in großem Stil Erdgas mit Hilfe des Ölkonzerns BP, der in Gelsenkirchen-Scholven eine Raffinerie betreibt. So soll im noch recht jungen Evonik-Gaskraftwerk in Marl in den nächsten Monaten Liquefied Petroleum Gas (LPG) – auch bekannt als Autogas – anstelle von Erdgas zur Energieerzeugung zum Einsatz kommen. Die Standorte in Scholven und Marl sind über Pipelines verbunden. In Zusammenarbeit mit der Raffinerie in Gelsenkirchen wollen Evonik und BP Unternehmensangaben zufolge „eine ausreichende LPG-Versorgung in Marl sicherstellen“. LPG ist ein Flüssiggas, das in seiner Zusammensetzung vor allem aus Butangas besteht. Mithilfe des Unternehmens Siemens Energy seien die Anlagen entsprechend angepasst worden.
Auch ein Kohlekraftwerk in Marl, das eigentlich vom Netz gehen sollte, bleibt länger als geplant in Betrieb. Ursprünglich wollte Evonik das Kraftwerk in diesem Jahr stilllegen. Um die Energieversorgung am Standort zu sichern, werde der Essener Konzern nun das notwendige Personal für das Kraftwerk einstellen, die Kohleversorgung sichern und in den technischen Erhalt der Anlage investieren. Damit sei ein Weiterbetrieb über dieses Jahr hinaus gewährleistet. Konzernchef Kullmann erklärt, mit den verschiedenen Schritten sei es möglich, „für die Energieversorgung an unserem größten deutschen Standort in Marl auf Erdgas zu verzichten – und das ohne eine nennenswerte Einschränkung der Produktion“.
Erdgasmengen, die nun nicht mehr am Chemiestandort Marl benötigt würden, stünden zum Auffüllen der deutschen Erdgasspeicher zur Verfügung, hebt Evonik hervor. Die ersetzte Erdgas-Menge entspreche dem jährlichen Verbrauch von mehr als 100.000 privaten Haushalten. „Das Sparen von Gas ist für uns alle in der aktuellen Situation in Deutschland eine wichtige und dringende Aufgabe“, sagt in diesem Zusammenhang Wolfgang Langhoff, der Vorstandschef der BP Europa SE. Langhoff verweist auf eine „partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Standorten von BP in Gelsenkirchen und Evonik in Marl“.
Evonik ersetzt Erdgas durch Kohle, LPG und Heizöl
Während Evonik in Marl verstärkt Kohle und LPG einsetzen will, ist an anderen Standorten des Konzerns Heizöl als Erdgas-Ersatz vorgesehen. In einer Mitteilung erwähnt das Unternehmen unter anderem die Werke in Essen, Krefeld, Lülsdorf und Wesseling. „Hier wird Erdgas zum Teil durch Heizöl substituiert. Entsprechende Investitionen wurden bereits eingeleitet“, so das Unternehmen. Mit der Verwendung von Kohle und Heizöl dürfte ein höherer Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid (CO2) verbunden sein, den Evonik nicht näher beziffert. Auch zu den Kosten für die Umrüstung äußert sich das Unternehmen nicht.
Weltweit bezieht Evonik eigenen Angaben zufolge insgesamt etwa 15 Terawattstunden (TWh) Erdgas pro Jahr, das zum überwiegenden Teil zur Energie- und Dampferzeugung genutzt wird. Gut ein Drittel davon entfalle auf Deutschland. Zum Vergleich: Die gesamte chemische Industrie in Deutschland benötigt nach Angaben des Branchenverbands VCI rund 135 Terawattstunden Gas im Jahr. Damit sieht sich die Chemieindustrie bundesweit als größter Erdgas-Verbraucher.
Die Energieversorgung der Evonik-Standorte außerhalb Deutschlands, etwa im belgischen Antwerpen, sei ohnehin „weitestgehend unabhängig von Gaslieferungen aus Russland“, erklärt das Unternehmen. So sei es gerade in Deutschland darum gegangen, das Risiko für etwaige Produktionsausfälle im Falle eines russischen Gas-Lieferstopps zu reduzieren.