Essen. Der Schienennahverkehr soll in den kommenden Jahren in NRW weiter ausgebaut werden. Doch die größte Hürde liegt beim Personal.

Wer Job-Sicherheit bei der Berufswahl an erste Stelle setzt, denkt wahrscheinlich an eine Karriere im Öffentlichen Dienst, am besten verbeamtet. Eine sichere Job-Perspektive in der Privatwirtschaft? Auch ohne Abitur? Oder auch für Quereinsteiger, selbst im „Ü-50“-Alter? Die Antwort lautet aktuell und auch noch für die kommenden Jahre: Lokführer!

„Wenn es nicht gelingt, zusätzliche Lokführer zu gewinnen, kann Nordrhein-Westfalen die Pendler- und Güterströme nicht bewältigen“, warnt Dirk Flege, Geschäftsführer des Aktionsbündnisses Allianz pro Schiene. Allein in NRW müssten in den kommenden Jahren mehr als 700 Lokführer neu eingestellt werden, „um personalbedingte Zugausfälle zu vermeiden“, berichtete jüngst die Initiative Fokus Bahn NRW, Gemeinschaftsinitiative der Bahnunternehmen und -Verkehrsverbände in NRW.

Lokführermangel ist ein bundesweites Problem. In NRW führt er immer wieder dazu, dass Bahnanbieter zum Teil für Wochen Verbindungen durch Busse ersetzten oder einfach kappen; und die nächste Grippewelle kommt bestimmt…

Nur 25 Bewerber auf 100 offene Lokführer-Stellen

Auch interessant

Jüngst hatte der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) den Vertrag mit dem Bahnunternehmen Keolis/Eurobahn vorzeitig gekündigt, das zum Fahrplanwechsel am 15. Dezember den Betrieb der S-Bahnlinien S1 und S4 von der DB übernehmen sollte. Grund: Keolis hatte zu wenig Lokführer, um den Betrieb der Linien im Sinne der Kunden zu garantieren, befand der VRR. Nun wird die Deutsche Bahn die Linie für zwei weitere Jahre betreiben. Aber noch hat auch die DB nicht die nötigen Lokführer beisammen.

Auf 100 offene Lokführer-Stellen kommen aktuell nur noch 25 Bewerber; die Zahl ist seit 2017 sogar sinkend, teilt die „Allianz pro Schiene“ mit, nach eigenen Angaben unabhängige Lobby für besseren Schienenverkehr. In NRW waren Stand September dieses Jahres 474 Stellen für Lokführer offen. Demgegenüber registrierten die Arbeitsagenturen insgesamt 106 arbeitslose Lokführer in NRW.

Viele Bewerber, die wenigsten waren wirklich geeignet

Die Aussichten auf einen sicheren Job sind bestens. Für Umschüler etwa gibt es eine Kurzausbildung über neun bis zwölf Monate, wirbt das Bündnis „Die Bahnen in NRW“, das unter dem Titel „wir-machen-das.nrw“ online für den Lokführerberuf wirbt.

Die besten Chancen haben Bewerber mit abgeschlossener gewerblich-technischer Ausbildung. Doch die Hürden, genommen zu werden, sind nicht niedrig: „Man muss gesundheitlich sehr fit sein und braucht eine hohe psychische Belastbarkeit“, sagt Sven Schmitte, NRW-Bezirksvorsitzender der Gewerkschaft der Lokomotivführer; Schmitte fuhr selbst Jahre lang Züge durchs Land.

Auch interessant

Eine Sprecherin der Nordwestbahn, wo der Mangel an Lokführern in der jüngeren Vergangenheit öfter zu Zugausfällen führte, berichtete in einem Bericht vom Januar dieses Jahres dieser Redaktion: 2018 habe es rund 600 Bewerber als Lokführer gegeben; nur 10 Prozent hätten alle fachlichen Voraussetzungen mitgebracht: „Wir wissen: Wir müssen was machen.“

Warum in den Ballungsräumen Lokführer fehlen

Es gibt vieles, das den Lokführer-Beruf im Vergleich nicht gerade attraktiv macht: Schichtdienst an allen Wochen- und Feiertagen, von früh bis spät, etwa. Das Einstiegsgehalt mit um die 2900 Euro brutto pro Monat ist zwar in den vergangenen Jahren gestiegen, doch: „In NRW kommt vor allem in den Städten wie Köln, Bonn und Düsseldorf oder auch in anderen wohlhabenden Regionen wie Münster das Problem hinzu, dass ein sehr hohes Mietniveau und relativ hohe Löhne in anderen Unternehmen die Suche nach Fachkräften in der Schienenbranche erschweren“, gibt die Allianz pro Schiene zu bedenken.

Dass es überhaupt zum Lokführermangel gekommen ist, liege vor allem an der DB, die vor 20 Jahren damit begonnen habe, bei der Ausbildung zu kürzen, heißt es bei der GDL. Und die Auswirkungen seien auch in den kommenden zehn Jahren noch zu spüren: Alleine in NRW zeigen Berechnungen, dass in diesem Zeitraum gut 1000 Lokführer aus dem Dienst ausscheiden werden. Nachwuchs ist umso nötiger.

Problem Abbrecher- und Durchfall-Quote bei der Lokführerausbildung

Das Bahnunternehmen Abellio erwähnt auch eine hohe Abbrecherquote, benennt sie aber nicht im Detail: Aktuell würden dort „im niedrigen dreistelligen Bereich“ Lokführer ausgebildet. Nicht nur für die Übernahme von drei S-Bahnlinien zum Fahrplanwechsel im Dezember, sondern auch für die Betriebsaufnahme der Regionalexpress-Linie RE1, die im Rahmen der Umstellung auf das „RRX“-Netz im Sommer 2020 von der Deutschen Bahn an Abellio übergeht.

Auch interessant

„Geplant bilden wir über Bedarf aus“, sagt eine Abellio-Sprecherin, weil man „eine gewisse Durchfallquote“ mit einplane. „Allerdings brechen einige noch vor Antritt an die Prüfung die Ausbildung ab.“ Dies sei unter anderem „der doch sehr komplexen Ausbildung geschuldet“; Seiteneinsteiger müssen innerhalb von neun Monaten den Stoff pauken, wie er auch in der dreijährigen Berufsausbildung für Berufseinsteiger vermittelt wird. Die schriftlichen, mündlichen und praktischen Prüfungen müssten jeweils mit mindestens 70 Prozent bestanden werden. Die Abellio-Sprecherin sagt, dies sei „ein sehr hoher Maßstab, der dafür sorgt dass beim Thema Sicherheit keine Abstriche gemacht werden.“

Bahnunternehmen in NRW beschäftigen mehr Lokführer

Unterdessen steigen die Beschäftigungszahlen bei Lokführern in NRW: Im März 2014 waren 4605 Lokführer in NRW beschäftigt, im März 2019 waren es bereits 5969, teilte die Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit mit. Auch die Zahl bei den Auszubildenden nimmt inzwischen zu. 2017 waren 379 Menschen in einer Ausbildung bzw. Qualifikation zum Lokführer. 2018 waren es 658. Und zwischen Juli 2018 und Juni 2019 stieg die Zahl auf 765 Teilnehmer.

Auch interessant

Wer seine Ausbildung zum Lokführer bestanden hat, dem garantieren die großen Bahnunternehmen in NRW eine Festanstellung. Selbst Keolis, das Unternehmen, das der VRR kurz vor Übernahme der S-Bahnlinien S1 und S4 jüngst kündigte, hat nicht mit einer Entlassungswelle reagiert – zumal man nun vor Gericht gegen die Vertragskündigung kämpft. „Wir können als Unternehmen unseren Mitarbeitern versichern, dass sie auf uns zählen können“, sagt eine Keolis-Sprecherin: „Wir haben in die Ausbildung investiert und ein großes Interesse, alle neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unserem Unternehmen zu halten.“

Sollte Keolis vor Gericht gegenüber dem VRR unterliegen, kann das im Übrigen zu einer skurrilen Situation führen: Weil die DB, die ab 15. Dezember die beiden S-Bahnlinien ersatzweise für zwei Jahre übernimmt, dort nach wie vor dringend Personal benötigt, könnte der gekündigte Betreiber Keolis in die Situation kommen, der DB Lokführer auszuleihen…