Gelsenkirchen. Der Streit um die S-Bahnlinien S1 und S4 liegt vor Gericht. Ob beim Fahrplanwechsel im Dezember alles klappt, ist nicht nur deshalb fraglich.

Auf dem Papier ist alles entschieden: Wenn am 15. Dezember ein neuer Fahrplan im Bahnverkehr in Kraft tritt, bleiben die S-Bahnlinien S1 und S4 für die kommenden zwei Jahre unter der Regie der Deutschen Bahn. Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) hatte sich zur „Notvergabe“ an die DB entschieden und dem Bahnunternehmen Keolis/Eurobahn, das die Linien eigentlich übernehmen sollte, zuvor den Vertrag gekündigt. Keolis hatte nicht genug Lokführer, der VRR sah den zuverlässigen Betrieb der Linien in Gefahr. Ob der S-Bahnverkehr nach dem Fahrplanwechsel tatsächlich ohne Probleme laufen wird, ist jedoch fraglich.

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Denn der VRR startet am 15. Dezember auf fünf S-Bahnlinien auch ein neues „Bedienkonzept“. Vor allem auf der Linie S1 führt das zu gravierenden Veränderungen: Es fahren mehr Züge in teilweise engerem Takt. Deshalb werden dort noch mehr Lokführer gebraucht werden als bisher. Aber die fehlen in der gesamten Bahnbranche.

Drohen Zugausfälle auf der S-Bahnlinie S1?

Vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen und vor der Vergabekammer der Bezirksregierung Münster klagt das Bahnunternehmen Keolis, das in NRW unter dem Namen Eurobahn mehrere Regionalzuglinien betreibt, gegen den VRR und hofft, die S-Bahnlinien S1 und S4 zurückzubekommen. Gelänge dies, müssten Bahnpendler wohl für mehrere Monate mit Zugausfällen rechnen.

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Selbst bei Keolis räumt man ein, zur Betriebsübernahme wären Einschränkungen nicht zu verhindern. So hatte man es auch dem VRR berichtet, als die Probleme im September nicht mehr aus der Welt zu schaffen waren so dass man vorgeschlagen hatten, den neuen Fahrplantakt auf den Linien deshalb nur „sukzessive“ zu übernehmen. Das hatte der VRR abgelehnt.

121 Lokführer-Stellen habe man für den Betrieb der beiden S-Bahnlinien geplant, rechnet Keolis vor. Zum 15. Dezember wären jedoch erst 80 Lokführer verfügbar. 40 weitere würden erst ab März 2020 in den Einsatz kommen; noch sind sie in der Ausbildung, teilte eine Sprecherin mit. Mit der DB habe man zuvor darüber verhandelt, von ihr Lokführer übergangsweise auszuleihen. Doch Ende Juli habe die Bahn einen Rückzieher gemacht, „ohne Angabe von Gründen“, beklagt Keolis.

DB wirbt bei Lokführern für noch mehr Überstunden

„Wir weisen jegliche Vorwürfe zurück“, sagt ein Sprecher der DB: „Keolis hat die Lage selbst zu verantworten“. Details aus den Verhandlungen mag man aber nicht öffentlich machen. Die Bahn gibt sich trotz allem zuversichtlich, das neue Betriebskonzept der beiden S-Bahnlinien zum Fahrplanwechsel „vollumfänglich umzusetzen“, sagt der Sprecher. Beobachter haben Zweifel, ob das tatsächlich gelingen kann.

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Denn die DB räumt selbst ein, dass sie die fehlenden Lokführer für den S-Bahnbetrieb größtenteils erst noch beschaffen muss. Freiwerdende Lokführer „waren bereits für andere Einsatzbereiche verplant, etwa im Fern- oder im Güterverkehr“, teilte die Bahn mit. Sie von dort zurückzuholen, sei nicht so leicht, heißt es bei der Lokführergewerkschaft GDL in NRW.

Nach Informationen der Gewerkschaft der Lokführer hatte die Bahn mit Blick auf den Fahrplanwechsel zuletzt nur etwa 60 Lokführer als „Überhang“ verfügbar – also die Hälfte des Personals, das Keolis für den vertragsgemäßen Betrieb der beiden S-Bahnlinien geplant hatte. Die DB äußerte sich auf Nachfrage nicht zu konkreten Zahlen.

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„Der Betrieb der Linien geht nur mit noch mehr Überstunden für das Personal“, kritisiert Sven Schmitte, Bezirksvorsitzender der NRW-GDL. Laut GDL werbe die DB bereits intern bei ihrem Personal für mehr Überstunden „und bietet dafür Anreize an“, sagt Schmitte: in der Regel mehr Geld. Doch viele der Lokführer bei DB Regio NRW hätten schon einen Berg an Überstunden aufgehäuft, der sich angesichts des Personalmangels „gar nicht abbauen lässt“, sagt Schmitte.

Gewerkschaft GDL: „Bahn kann zuverlässigen Betrieb nicht garantieren“

Auf dieser Basis könne die DB aus Sicht von Schmitte jedenfalls keinen zuverlässigen Betrieb etwa der besonders wichtigen Linie S1 zwischen Solingen, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund garantieren. Denn die gewerkschaftlich organisierten Lokführer hätten die tarifvertraglich zugesicherte Möglichkeit, Überstunden abzulehnen ohne personelle Konsequenzen zu befürchten. Sie könnten auch kurzfristig eine Dienstplanung kippen, wenn sie ihre Belastung als zu hoch bewerten.

Und die Situation wird nicht besser: Während der VRR in den kommenden Jahren weitere Anstrengungen unternimmt, das Nahverkehrsangebot auf der Schiene auszuweiten, werde sich der allgemeine Lokführermangel noch verschärfen, warnt die GDL. „Das betrifft alle Bahnunternehmen“, mahnt Schmitte.

„In den nächsten acht Jahren werden in NRW alleine 600 Lokführer aus Altersgründen aus dem Dienst ausscheiden“, sagt Schmitte – das sind fast 20 Prozent. Insgesamt gehe man gar von 1000 Lokführern aus, wenn man weitere Ausfallgründe hinzuziehe.

Kündigung von Keolis hat für Verunsicherung in der Bahnbranche gesorgt

Mehr S-Bahnen, neuer Fahrplan-Takt

Für Bahnpendler an Rhein und Ruhr soll mit dem Fahrplanwechsel am 15. Dezember vieles besser werden. Auf fünf S-Bahnlinien soll ein neues „Bedienungskonzept“ umgesetzt werden.

  • Die Linie S1 fährt dann wochentags öfter; Züge fahren, je nach Streckenabschnitt, im 15-, 20- oder 30-Minuten-Takt.
  • Auch auf den Linien S2, S3, S4 und S9 gibt es Veränderungen.

Zudem gibt es neue RE-Verbindungen:

  • Die Linie RE49 bietet darunter erstmals eine direkte Verbindung zwischen Wesel und Essen.
  • Die Linie RB35 verkehrt dagegen nicht mehr bis Wesel sondern fährt von Oberhausen aus nach Bottrop.

Der VRR räumt aber auch „nachteilige Veränderungen“ ein:

  • Das Angebot zwischen Essen und Hattingen wird gesenkt; S1-Nutzer müssen zwischen Duisburg und Essen in RE-Züge umsteigen, weil S-Bahnen in diesem Bereich statt im 20- dann nur im 30-Minuten-Takt fahren.
  • Zwischen Dorsten und Oberhausen fällt die Direktverbindung weg und auf der Linie S9 werden einige Halte nur noch halbstündig angefahren, andere dagegen öfter, weil dort nun RE-Züge halten. (dae)

Neue Lokführer zu qualifizieren, sei jedoch extrem schwierig, heißt es bei der GDL: „Die gesundheitlichen Anforderungen für Bewerber sind sehr hoch“, sagt Schmitte. Auch sei eine hohe psychische Belastbarkeit notwendig – Stichwort: Suizid auf der Schiene – und großes technisches Verständnis. Die unregelmäßigen Arbeitszeiten – an allen Wochen- und Feiertagen und von früh bis spät – trügen zudem nicht zur Attraktivität des Lokführerberufs bei, sagt Schmitte.

Mit Blick auf den anstehenden Fahrplanwechsel drohen Probleme auch auf weiteren S-Bahnlinien. Der Bahnbetreiber Abellio übernimmt ab 15. Dezember den Betrieb der S-Bahnlinien S2, S3 und S9. Bei den bisherigen Betriebsübernahmen lief bei Abellio alles reibungslos, lobte die DB. Nun aber räumt man auch bei Abellio ein: „Durch den gekündigten Vertrag bei unserem Wettbewerber Keolis herrscht eine gewisse Unsicherheit innerhalb der betroffenen Eisenbahnverkehrsunternehmen“. Abellio sagt zudem: „Wir haben für verschiedenste Szenarien sogenannte Ersatzkonzepte erarbeitet“. Näher ausführen mochte man dies nicht. Auch Abellio war mit der DB in Sachen Leih-Lokführer im Gespräch.

VRR sieht jetzt die Deutsche Bahn in der Pflicht

„Wir sind überzeugt, dass die Notvergabe der richtige Weg ist“, heißt es unterdessen beim VRR. Das Ziel sei in erster Linie „die Sicherstellung der Verkehrsleistungen auf der Linie S1 und S4“, sagt eine Sprecherin. Beide S-Bahn-Linien „bilden ein wesentliches Rückgrat der S-Bahn-Leistungen im zentralen Ruhrgebiet“, sagt der VRR: Ein „signifikanter Ausfall dieser Linien durch fehlenden Triebfahrzeugführer würde tausende von Pendlern täglich treffen“.

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Beim VRR sieht man nun die DB in der Pflicht. Sie habe dem VRR schließlich „bestätigt, den Betrieb auf den beiden S-Bahnlinien im vom VRR bestellten Umfang zu erbringen“. Sollten das Gericht oder die Vergabekammer den Betreiber Keolis im Recht sehen, „steht dem VRR die sofortige Beschwerde zu“, teilte der Verband mit. Was das für Bahnpendler bedeuten würde, dazu mochte man beim VRR keine Stellung beziehen.

Keolis beziffert den wirtschaftlichen Schaden durch die Vertragskündigung nach eigenen Angaben auf mindestens sechs Millionen Euro und erklärt, man sehe sich weiterhin in der Lage, den Betrieb der beiden S-Bahnlinien zu stemmen: „Wir haben bis heute nicht aufgehört weiter zu mobilisieren“, sagt eine Sprecherin: „Die aktuelle Situation macht die Lage grundsätzlich nicht einfacher.“