Essen. Die tödlichen Attacken an Bahnhöfen in Frankfurt und Voerde zeigen einmal mehr: Lokführer haben ein hohes Risiko, psychisch zu erkranken.
Es kann sich zeigen als Zittern, Erstarren, Schwitzen und in plötzlich erhöhtem Puls oder später mit Bildern im Kopf, Ängsten, Depressionen oder Schuldgefühlen: Die Attacken in Frankfurt und Voerde, bei denen im Abstand weniger Tage ein Achtjähriger Junge und eine 34-jährige Frau vor einen Zug gestoßen wurden und zu Tode kamen, haben noch weitere Opfer. Die Lokführer, die die beiden Züge steuerten. Die betreffenden Bahnunternehmen, die Deutsche Bahn AG und der private Betreiber Abellio, machen beide deutlich, wie wichtig es ihnen als Unternehmen ist, dass Beschäftige in solchen Fällen unmittelbar psychologische Hilfe bekommen, wenn sie die wollen. Denn: Dass Lokführer Opfer psychischer Grenzsituationen werden, passiert in Deutschland mehrere Hundert mal im Jahr.
„Personenunfälle gehören tatsächlich zum Berufsrisiko von Lokführern“, sagt etwa eine Abellio-Sprecherin. Vorsätzliche fremdverschuldete Tötungsdelikte, wie in Voerde und Frankfurt, seien allerdings die Ausnahme bei tödlichen Personenunfällen. Am meisten sind es Suizide auf Schienen, die das Personal im Führerstand von Bahnen und Zügen psychisch massiv in Mitleidenschaft ziehen können.
Mehr als Tausend Personenunfälle im Bahnverkehr
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Laut den bisher jüngsten vorliegenden Zahlen wurden in Deutschland im Jahr 2017 insgesamt 1025 tödliche Personenunfälle im Bahnverkehr gezählt, heißt es beim Eisenbahnbundesamt; fast 870-mal warfen sich dabei Menschen vor einen Zug. „Statistisch gesehen erleben Lokführer alle 20 Jahre einen Schienensuizid“, heißt es dazu bei der Deutschen Bahn. In einem 45-jährigen Berufsleben würden Lokführer solch ein Erlebnis statistisch zweimal durchlebt haben. Bei der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) ist zu hören, es gebe auch Lokführer, die Personenunfälle – nicht nur durch Suizide - „drei, vier oder sogar schon fünfmal mitgemacht haben“, wie eine Sprecherin auf Anfrage sagte.
Für die GDL ist entscheidend, „wie mit Personal nach einem solchen Geschehen umgegangen wird“. Bahnunternehmen hätten da in den vergangenen Jahren dazugelernt und würden Mitarbeiter im Großen und Ganzen inzwischen sehr gute Hilfsangebote machen. Die DB etwa bietet nach eigenen Angaben „ein umfassendes Betreuungsprogramm zur Vermeidung posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS)“. Betroffenen Mitarbeiter „erfahren umfassende Hilfe durch ein Team von vielen in psychischer Erster Hilfe geschulter Kollegen. Dazu gehörten derzeit 35 Psychologen sowie Betriebsärzte eines externen Anbieters von Gesundheitsdienstleistungen, teilte die Bahn in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2017 mit.
Psychische Folgen können Lokführer Jahre lang quälen
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Laut DB tritt bei rund zehn Prozent der betroffenen Lokführer eine PTBS auf; jeder Lokführer gehe unterschiedlich mit dieser extremen Belastung vor, heißt es bei Medizinern. Eine Dissertation aus dem Jahr 2011, bei der 45 U-Bahnfahrerinnen und –fahrer in München untersucht wurden, zeigte, dass die psychischen Folgen eines Personenunfalls, bei dem etwa ein Mensch überrollt wurde, Betroffenen mitunter über mehrere Jahre gequält hätten. Mehr als 42 Prozent der befragten Fahrer hätten auch Jahre nach einem Vorfall noch an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten, bei dem das Erlebte einen nicht loslässt und psychisch und körperlich erheblich belastet.
„Man muss als Lokführer permanent rechnen, dass etwas passiert“, heißt es dazu bei der GDL. Bereits in der Ausbildung zum Lokführer seien Personenunfälle daher inzwischen Thema, sagt dazu die Deutsche Bahn: „Die gedankliche Auseinandersetzung mit den Folgen eines möglichen traumatischen Ereignisses ist sowohl Teil der Ausbildung als auf des Fortbildungsunterrichts“, erklärte ein DB-Sprecher auf Nachfrage.
„Es gibt Menschen, die das mit sich ausmachen können“
Als unmittelbare Reaktion auf eine Zwischenfall greife beim Bahnunternehmen Abellio als erstes „die Notfallkette“, beschreibt eine Sprecherin: „Hierzu zählt dann auch die Erstbetreuung durch den Notdienst des Eisenbahnverkehrsunternehmens. Im Anschluss greift die Betreuung von externen Therapeuten mit denen wir eng zusammenarbeiten.“
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Dabei sei es „nicht zwingend“, dass Opfer psychologische Hilfe benötigen, sagt Jan Hetmeier, Psychologe bei der Unfallversicherung Bund und Bahn, gesetzlicher Unfallversicherer unter anderem für Mitarbeiter der Deutschen Bahn. „Es gibt Menschen, die das mit sich ausmachen können oder die nicht so stark belastet sind dadurch. Man kann das aber nicht vorhersagen, bei wem das so ist“. Daher gelte für Bahnunternehmen, sie sollten „immer Nachsorge anbieten und auch im Nachhinein, falls die Betroffenen sich umentscheiden und doch Hilfe benötigen, Versorgungsstrukturen aufrechterhalten“, sagt Hetmeier.
Wie es derzeit dem Lokführer geht, der am 21. Juli im Führerstand des Regionalexpress war, als bei der Einfahrt im Bahnhof Voerde plötzlich eine Frau vom Bahnsteig vor den Zug gestoßen wurde, dazu möchte man sich beim Bahnunternehmen Abellio nicht äußern. Nur soviel war zu erfahren: „Nach wie vor ist unser Mitarbeiter vom Dienst befreit“.