Brüssel. Sie träumten von Europa, doch sie fuhren in den Tod. Dutzende Flüchtlinge aus Afrika sollen jetzt im Mittelmeer ums Leben gekommen sein. Fast unglaublich: Maltesische Marine-Soldaten sollen die entkräfteten Migranten auf See gesichtet und ihnen geraten haben, weiter nach Italien zu fahren.

Fünf Überlebende erzählten im italienischen Lampedusa eine fast unglaubliche Geschichte: Soldaten der maltesischen Marine hätten die entkräfteten Migranten auf dem Meer gesichtet, ihnen Wasser, Brot und Schwimmwesten zugeworfen und ihnen schließlich geraten, nach Italien weiterzufahren.

Rom beschuldigt die maltesischen Behörden nun, den Menschen in ihrer Not nicht geholfen zu haben. Malta kontert: Die Flüchtlinge hätten ihr Boot nicht verlassen wollen, und sie seien in guter Verfassung gewesen.

Italien gehört zu den Ländern, die angesichts ihrer geographischen Lage besonderes Interesse haben müssten, dass es bei der Aufnahme von Flüchtlingen einigermaßen fair zugeht in der EU. Doch ausgerechnet Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi hat mit einem rabiaten Ausfall gegen Brüssel die jüngste Initiative zur fairen Verteilung der Lasten durch den nicht abreißenden Flüchtlingsstrom an den Rand gedrängt.

Erbost über vermeintliche Kritik aus den niederen Rängen der EU-Kommission, droht Berlusconi mit einer Gipfel-Blockade und fordert die Entlassung unbotmäßiger Bediensteter in der EU-Zentrale. Deren Versuche, den Streit schnellstmöglich zu begraben, blieben zunächst erfolglos.

Dabei hätte die EU in diesem Fall durchaus Anlass, ihrerseits über die Attacken des wilden Mannes aus Rom vergrätzt zu sein. Der nimmt daran Anstoß, dass ein Kommissionssprecher mitgeteilt hatte, Brüssel wolle klären, warum Italien ein Boot mit rund 70 Flüchtlingen nach Libyen zurückgeschickt habe. Man habe von den beteiligten Regierungen (Italien und Malta) Auskunft erbeten. Grundsätzlich habe jedermann das Recht, einen Antrag auf Anerkennung als Flüchtling zu stellen, und gegebenenfalls einen Anspruch auf internationalen Schutz.

Von einem Vorwurf an die Adresse der Italiener war in diesem Zusammenhang (noch) nicht die Rede, nur vom Bedürfnis nach Aufklärung. Dem hitzköpfigen Ministerpräsidenten reichte es trotzdem: In Brüssel hätten gefälligst alle bis auf Kommissionschef Barroso und dessen Sprecher den Mund zu halten, verlangte der Italiener am Rande der Danziger Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen. Wer als ordinärer Kommissar oder gar Kommissarssprecher öffentlich etwas von sich gebe, sei zu feuern, und zwar „definitiv”, so Berlusconi. Sprach's und schickte die Warnung hinterher, widrigenfalls werde er „die Arbeit des Europäischen Rates blockieren”.

"Nur ein Missverständnis"

Starker Tobak. Der Kommissionschef müsse „den unerhörten Angriff” sofort zurückweisen, forderte Martin Schulz, Chef der Sozialisten im EU-Parlament. Barroso, der um seine Wiederwahl kämpft, dachte nicht daran. „Ein Missverständnis” flötete sein Sprecher. In der Zwischenzeit seien „die Dinge abgeklärt“. Die Kommission sei nach den EU-Verträgen ein Kollegium, das gemeinsam entscheide und veröffentliche. „Wir sind nur Lautsprecher der politischen Ebene.”

Ob sich der Italiener wirklich abgeregt hat, blieb in Brüssel gestern offen. Den Schaden hatte der für Flüchtlinge zuständige Kommissar Jacques Barrot: Seine Vorschläge für bessere Lastenverteilung gingen in der Aufregung unter.

Eine „Neuansiedlung” brauchen Flüchtlinge, die weder in ihr Herkunftsland zurück noch an ihrem derzeitigen Aufenthaltsort bleiben können. Zur Lösung dieses Problems leistet die EU einen eher bescheidenen Beitrag. Nach UN-Zahlen werden von weltweit rund zehn Millionen Flüchtlingen nächstes Jahr gut 200 000 eine andere, dauerhafte Bleibe benötigen. Im vergangenen Jahr haben die EU-Staaten aber gerade mal 4378 Flüchtlingen eine neue Heimstatt geboten.

Demgegenüber bringt Pakistan allein 1,8 Millionen Menschen unter, Syrien 1,1 Millionen. Auch die USA, Kanada und Australien sind offener für Flüchtlingszuwanderung (umgekehrt ist es bei Asylsuchenden, die in der EU bessere Chancen haben).

Europäisches Neuansiedlungsprogramm

EU-Innenkommissar Jacques Barrot möchte mit einem „gemeinsamen Neuansiedlungsprogramm“ einerseits die Aufnahmebereitschaft der EU verbessern, andererseits die 27 Mitgliedstaaten zu mehr Koordinierung, besserer Verteilung und politisch sinnvollen Prioritäten bewegen. Derzeit stimmen sich die Regierungen nur im Ausnahmefall untereinander ab. Barrot will jede Neuansiedlung mit 4000 Euro aus Brüssel unterstützen. Die Entscheidung, wer wie viele Flüchtlinge aufnimmt, solle aber nationale Angelegenheit bleiben. Außerdem ziehe die EU weiter ein klare Linie zwischen Flüchtlingen und illegaler Immigration. Barrots Pläne gehen jetzt in die Beratungen durch den Ministerrat und das EU-Parlament.