Essen.. Ob Schulen, Straßen-Namen oder Schwimmbäder: Bürger können in NRW in vielen Bereichen Entscheidungen beeinflussen, die sonst der örtlichen Politik vorbehalten wären. Aber: sind Politiker nicht kompetenter als Bürger? Und können sich Kommunen angesichts der Haushaltsnot Bürgerbegehren überhaupt leisten? Irrtümer zur Bürgerbeteiligung.

Wäre sie ein Mensch, die Bürgerbeteiligung in NRW wäre seit diesem Herbst volljährig. Am 17. Oktober 1994 trat die Novelle der NRW-Gemeindeorndung in Kraft. Seitdem haben die Bürger in Kommunen die Möglichkeit, politische Entscheidungen vor Ort direkt zu beeinflussen - per Bürgerbegehren oder Bürgerentscheid. Mehr als 600 Bürgerbegehren auf kommunaler Ebene sind seitdem in NRW gezählt worden. Darunter so spektakuläre wie die Abwahl des Duisburger Oberbürgermeisters Adolf Sauerland am 12. Februar diesen Jahres. Doch um die Bürgerbeteiligung ranken sich Irrtümer.

1) Bürger dürfen bei vielen Themen noch immer nicht mitreden

Nun ja, was heißt "viele Themen"? "Die beiden häufigsten Themen für Bürgerbegehren in den Kommunen sind Schule und Schwimmbäder", sagt Thorsten Sterk, Sprecher des Vereins Mehr Demokratie in NRW. Daneben gehe es immer wieder um den Erhalt von Stadtteilbibliotheken und ähnlichen Einrichtungen oder auch um Bebauungs- und Flächennutzungspläne, was die rot-grüne NRW-Regierung 2011 neu eingeführt hatte.

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Die Kommunalverfassung NRW schließt allerdings bestimmte Themen von Bürger-Abstimmungen aus: Bürgerbegehren, die etwa "die Auflösung der Ämter einer Gemeindeverwaltung und die Einführung von Fachbereichen zum Ziel" haben, sind unzulässig. Auch der Ärger über die Höhe von Müllgebühren, Abwasserkosten oder die örtliche Grundsteuer ist für Bürgerbegehren Tabu.

2) Bürgerbegehren fördern den Demokratie-Frust

Offenbar nicht. Wer sich die Mühe macht, ein Bürgerbegehren voranzubringen und dann scheitert, wird frustiert sein. Aber die Statistik sagt etwas anderes: Mit 615 Bürgerbegehren, nach einer Übersicht von Mehr Demokratie zum Jahresbeginn 2012, liegt NRW in Sachen Bürgerteiligung an der Spitze aller Bundesländer. Seit der ersten Einführung in Baden-Württemberg 1956 sind bis Ende 2011 bundesweit insgesamt 5027 Bürgerbegehren gezählt worden. Davon endeten knapp 40 Prozent im Sinne ihrer Initiatoren - also erfolgreich. Die Statistik zeigt aber auch: 13,3 Prozent aller Bürgerentscheide bundesweit sind gescheitert, weil die vorgegebene Stimmhürde nicht erreicht wurde. Das steigert den Frust bei "Mehr Demokratie", die sich für Bürgerbeteiligung stark machen. Der Verein kritisiert seit Jahren, dass die festgesetzten Mindeststimmenzahlen zu hoch sind. Je nach Größe der Kommune müssen in NRW zwischen zehn oder 20 Prozent der Stimmberechtigten ein Bürgergebehren unterstützen.

3) Bürgerbegehren, Bürgerentscheid - das ist doch dasselbe

Das stimmt nicht ganz. "Die Bürgerinnen und Bürger beschließen bei einem Bürgerbegehren und einem Bürgerentscheid an Stelle des Rates", so die Erläuterung auf der Internetseite des NRW-Innenministeriums. Die Unterschiede liegen in der Hierarchie: Mit einem Bürgerbegehren können Bürger beantragen, dass sie an Stelle des Rates über eine Angelegenheit der Gemeinde selbst entscheiden; das wird juristisch auch als Rückholrecht bezeichnet, weil eine bereits getroffene Ratsentscheidung damit nachträglich gekippt werden kann. Lehnt der Rat das Bürgerbegehren ab, kann ein Bürgerentscheid in die Wege geleitet werden.

Irrtum: Mit Volksentscheiden schmeißen Bürger das Geld zum Fenster hinaus

4) Ein im Bürgerentscheid erfolgreiches Bürgerbegehren kann vom Rat jederzeit wieder gekippt werden

Stimmt nicht ganz. Bürgerentscheide können in NRW binnen zwei Jahren nach Abstimmungsdatum nur durch einen neuen Bürgerentscheid wieder aufgehoben werden, der vom Rat eingeleitet werden muss. Nach Ablauf der Frist kann der Rat Bürgerentscheide auch wieder aufheben, ohne die Wähler zu fragen.

5) Bei einem Bürgerentscheid in einer Kommune dürfen alle "Einwohner" abstimmen

Das ist falsch. Stimmberechtigt sind bei einem Bürgerentscheid nur die Bürger, die auch wahlberechtigt sind. Also alle Deutschen und anderen EU-Bürger ab 16 Jahren mit Erstwohnsitz in der jeweiligen Gemeinde.

6) Die meisten Bürgerbegehren in NRW sind gescheitert, weil sich die Bürger nicht genug dafür interessiert haben

"Das Bürgerbegehren an mangelndem Interesse scheitern, ist eher selten", sagt Thorsten Sterk. Die meisten Begehren erreichen die notwendige Unterschriftenzahl. Häufiger scheitern Bürgerbegehren, weil ihnen Fehler wie falsche Behauptungen oder unterschlagene Information vorgeworfen werden oder das Thema nicht zulässig ist, sagt Sterk.

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"Bei manchen Themen hat man zur Unterschriftensammlung nur sechs Wochen Zeit, was definitiv zu wenig ist". In der Vergangenheit ist jedes zweite zur Abstimmung gekommene Bürgerbegehren in NRW durch die hohe Abstimmungshürde zu Fall gebracht worden.

7) Mit Volksentscheiden schmeißen Bürger das Geld zum Fenster hinaus

"Verschiedene wissenschaftliche Studien belegen, dass der direkte Zugriff der Bürger auf Finanzentscheidungen heilsame Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte hat", sagt Thorsten Sterk: Überflüssige Prestigeprojekte  - siehe etwa die Debatte über das geplante Musikzentrum in Bochum - werden abgelehnt oder sparsamere Varianten für notwendige Investitionen beschlossen. Gleichzeitig gibt es die Bereitschaft, höheren Steuern und Abgaben zuzustimmen, wenn dies notwendig erscheint. In der Schweiz haben die Eidgenossen sich selber per Volksentscheid die Beiträge zur Invalidenversicherung erhöht. Weil die Bürger über die Verwendung ihrer Steuern selber entscheiden können, gibt es mehr Steuerehrlichkeit.

Irrtum: Bürgerentscheide sind nicht repräsentativ

8) Wer ein Bürgerbegehren initiieren will, ist auf sich selbst gestellt

Städte und Gemeinden sind verpflichtet, Bürgerbegehren zu beraten. Informationen zur Durchführung von Bürgerbegehren bekommt man außerdem beim Ministerium für Inneres und Kommunales und bei Mehr Demokratie, sagt Thorsten Sterk.

9) Unterschriftenlisten können von der Kommune auch für andere Zwecke ausgewertet werden

Wer ein Bürgerbegehren in Gang bringen will, muss dazu Unterschriften von Unterstützern sammeln. Je nach Größe der Gemeinde müssen zwischen drei und zehn Prozent der Bürger unterzeichnen. Die auf Unterschriftenlisten von Bürgerbegehren geleisteten Unterschriften und angegebenen Adressen dürfen nur zur Feststellung der Unterzeichnungsberechtigung der Unterstützer verwendet werden. Eine Nutzung zu anderen Zwecken oder eine Weitergabe an Dritte ist nicht erlaubt.

10) Bürgerbegehren sind immer 'rückwärtsgewandt', also immer 'dagegen'

Das Bürgerbegehren sich gegen einen Ratsbeschluss wenden, liegt in der Natur der Sache, meint Thorsten Sterk: "Warum sollten Bürger ein Begehren starten, wenn sie mit den Entscheidungen des Rates zufrieden sind oder ihre Anliegen vom Rat aufgegriffen und zufriedenstellend behandelt werden?" Es gibt aber auch durchaus Bürgerbegehren, die Ideen ins Rollen bringen, die Räte bisher nicht behandelt haben, erklärt der Sprecher von "Mehr Demokratie" und verweist auf ein erfolgreiches Begehren vor zwölf Jahren im Ruhrgebiet: Damals hatten die Bürger die Entwicklung eines Konzepts für ein "fahrradfreundliches Recklinghausen" vorgeschlagen.

11) Bürgerentscheide sind wegen ihrer im Vergleich zu Wahlen geringeren Beteiligung nicht repräsentativ

Der Relevanztest für einen Bürgerentscheid ist eine Mindestzahl an Unterschriften oder eine Mindestunterstützung hierfür im Rat, meint Mehr Demokratie-Sprecher Thorsten Sterk: "Bei Bürgerentscheiden haben alle Stimmberechtigten die Möglichkeit zur Teilnahme". Untersuchungen aus der Schweiz zeigten, dass Abstimmungsergebnisse mit Umfrageergebnissen zum Abstimmungsgegenstand allermeistens übereinstimmen.

Irrtum: Politiker sind kompetenter als die Bürger

12) Bei Volksentscheiden sind nur Ja/Nein-Entscheidungen möglich

"Letztlich läuft es auch in Parlamenten immer auf Ja/Nein-Entscheidungen hinaus", sagt Thorsten Sterk. "Wie hier ist aber auch die Abstimmung über Alternativen möglich, wenn ein Parlament bei einem Volksentscheid einen eigenen Gesetzentwurf in die Abstimmung einbringt".

13) Politiker sind kompetenter als die Bürger und entscheiden deshalb besser alleine

Wer sich in der Kommunalpolitik in einem Gemeinderat engagiert, tut das im Ehrenamt, also nebenberuflich bzw. in der Freizeit. Ratsleute oder Bezirksvertreter haben über zig Themen zu befinden, in denen man sich nicht überall gleichermaßen gut oder gar sehr gut auskennen kann. Ohnehin wird der Einfluss der Verwaltung auf die Politik immer wieder kritisiert - eine Problematik, die der mit Lobbyisten gleicht. Aus Sicht von Thorsten Sterk jedenfalls "muss man kein Experte sein, um bei Richtungsentscheidungen, um die es bei Volksentscheiden ja geht, kompetent entscheiden zu können" - wenn man sich denn im Vorfeld informiere.

14) Wer mehr Geld hat, setzt sich bei Volksentscheiden durch

Geld erleichtert die Durchführung von Bürgerbegehren, weil man zum Beispiel Unterschriftensammler bezahlen und die Werbetrommel stärker rühren kann, sagt Thorsten Sterk. Aktuelles Beispiel dazu: In Menden versucht der Industrielle Ulrich Bettermann die Absetzung des dortigen SPD-Bürgermeisters Volker Fleige voranzutreiben. Um die nötigen Unterschriften zu bekommen, hat Bettermann dazu unter anderem mehr als 30.000 Briefe an alle Mendener Haushalte verschicken lassen; Spenden sammeln musste der mehrfache Millionär dafür jedenfalls nicht.

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So umstritten das Verfahren in Menden ist, "mit Geld lässt sich keine Wählerschaft kaufen, die nicht inhaltlich überzeugt ist", sagt Thorsten Sterk. Vielmehr gebe es "zahlreiche Beispiele" dafür, dass die finanziell unterlegene Seite Volksentscheide gewinnt. Sterk nennt als Beispiel die Volksabstimmung über das Nichtraucherschutzgesetz 2010 in Bayern. "Damals hatte die Tabakindustrie ein mehrfaches von dem in den Abstimmungskampf investiert, was den Verfechtern des Volksbegehrens zur Verfügung stand. Trotzdem hat das Volksbegehren klar gewonnen".

15) Ohne Abstimmungshürden setzen sich bei Volksentscheiden „aktivistische Minderheiten“ durch

Ein Irrtum, dem man bei "Mehr Demokratie" energisch entgegentritt: Wer eine Mindestbeteiligung an Bürgerentscheiden oder eine Mindeststimmenzahl für Bürgerbegehren fordert, trägt damit dazu bei, dass sie die Minderheiten durchsetzen, die sich ja nicht durchsetzen sollen. So argumentiert Thorsten Sterk. Gegner eines Bürgerbegehrens setzten bei Vorhandensein solcher Hürden darauf, dass diese nicht erreicht würden und mobilisierten ihre Anhänger nicht zur Stimmabgabe. Diese seien dann im Abstimmungsergebnis unterrepräsentiert. Sterks Fazit: "Das verbessert die Chancen für Minderheiten, Bürgerentscheide zu gewinnen. Nur so kommen Zustimmungsraten von 90 Prozent für manche Bürgerbegehren zustande".

16) Volksentscheide fördern das St. Florians-Prinzip und sind nicht konstruktiv

Bei Mehr Demokratie hebt man die positiven Auswirkungen von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid hervor: Wer an Entscheidungen mit nachteiligen Wirkungen nicht beteiligt ist, entwickelt mangels Information und aus einer widerständlerischen Haltung heraus erst einmal eine ablehnende Position, sagt Thorsten Sterk: "Gibt es einen transparenten Abwägungsprozess etwa über den Ort für eine forensische Klinik und werden durch Informationen Ängste abgebaut, wächst auch die Zustimmung zu und die Akzeptanz von Entscheidungen". Der Blick in die Statistik zeige, laut Sterk: "Es gab beispielsweise in Bürgerentscheiden vielfach Zustimmung für neue Gewerbegebiete, obwohl hierdurch für Anwohner Belastungen entstehen".