Essen. . Beim Blitzmarathon sind viele Autofahrer besonders vorsichtig unterwegs. Sonst nehmen wir es im Straßenverkehr oft nicht so genau. Warum eigentlich?
Der Blitzmarathon hat sich mittlerweile etabliert in NRW. An diesem Donnerstag, 18. September, ist der nächste 24-stündige Aktionstag. Autofahrer dürften mittlerweile wissen: beim Blitzmarathon ist alles an Radargeräten auf Achse, was Polizei und Kommunen in NRW aufzubieten haben. Also: vorsichtig fahren! Aber warum fällt es uns - Hand aufs Herz! - überhaupt so schwer, uns an Verkehrsregeln zu halten?
In einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2011 zeigte sich, dass vor allem Temporegeln oft missachtet werden: 70 Prozent der Befragten gaben zu, dass sie Geschwindigkeitsbegrenzungen "manchmal nicht beachten" würden. Der deutlich höchste Wert in dieser Umfrage. Erst mit Abstand folgten falsches Parken, Vorbeirollen an Stoppschildern oder fehlendes Blinken beim Spurenwechsel.
Das Auto lädt dazu ein, sich Regeln zu widersetzen
"Straßenverkehr besteht nicht nur aus Regelwissen", sagt dazu der Münchner Verkehrspsychologe Prof. Wolfgang Fastenmeier. Er erklärt, was es uns so schwer macht, Verkehrsregeln zu beachten.
Zeigt sich beim Autofahren der ‚wahre Charakter’ eines Menschen?
Fastenmeier: Das Auto lädt dazu ein, sich anders zu verhalten, als man es normalerweise tut. Die soziale Kontrolle und soziale Kommunikation fehlen bzw. funktionieren nicht wie sonst. Wir bewegen uns im Auto wie in einem Käfig, der uns abschottet, schützt und egozentrisches, subjektivistisches Verhalten befördert. Hinzu kommt: Fehlerhaftes Verhalten bleibt zumeist folgenlos. Denn der Unfallstatistik zum Trotz dürfte ein großer Teil der Autofahrer nie im Leben in einen Unfall verwickelt werden. Verkehr ist eben ein fehlertolerantes System.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Regeltreue im Verkehr und dem Fahrzeugtyp, den man bewegt?
Fastenmeier: Wie kaum ein anderes Objekt bietet das Auto die Chance, nach außen Individualität zu vermitteln und daraus soziale Wertschöpfung anderer zu erfahren - oder sich das zumindest einzubilden. Ich habe aber meine Zweifel, dass man tatsächlich aussagekräftige Zusammenhänge findet, obwohl es natürlich bestimmte Klischees über Autotypen und Fahrstil gibt. Man könnte auch die Statistiken der Versicherer bemühen und die Unfallzahlen je nach Automodell auswerten. Aber auch das gibt kein klares Bild, weil Unfälle eine starke Zufallskomponente beinhalten.
Wenn Straßen zum Rasen einladen
Was führt denn dazu, dass wir Verkehrsregeln missachten?
Fastenmeier: Verkehrszeichen zum Beispiel werden von Verkehrsteilnehmern stark nach ihrer subjektiven Bedeutsamkeit betrachtet. Oder: Wenn auf einer vierspurigen, gut ausgebauten Straße nur Tempo 50 erlaubt ist, obwohl die Straße den Eindruck vermittelt, man könnte dort auch ohne Schwierigkeiten 80 fahren, lädt das dazu ein, dass die Vorschrift missachtet wird.
Also liegt das Hauptproblem nicht beim „Verkehrsteilnehmer“?
Fastenmeier: Nein, das kann man so nicht sagen. Aber die Verkehrsplanung ist durchaus auch mit verantwortlich dafür, dass Verkehrsregeln nicht eingehalten werden, wenn sich subjektiver Eindruck und objektive Gegebenheiten einer Verkehrsanlage nicht entsprechen. Auch die Tatsache, dass man in modernen, gedämmten Autos gar nicht mehr merkt, wie schnell man tatsächlich unterwegs ist, kann dazu verleiten, dass man unbewusst zum Raser wird. Bei den Medizinisch Psychologischen Untersuchungen (MPU; d.Red) wird das jedoch gerne als Ausrede genommen. Wer aber so oft aufgefallen ist, dass er zur MPU muss und dort erklärt, die Übertretungen seien bloß eine Ausnahme gewesen, man hätte es eben eilig gehabt – dem muss man sagen: Was ist zu tun, um Hektik, Stress, Rücksichtslosigkeit, Risikonahme zu vermeiden, wie kann man sein Zeitmanagement verbessern.
Ist Strafe das beste Mittel, um zum Beispiel Raser zur Raison zu bringen?
Fastenmeier: Überwachung und Sanktionen sind nur eine unter mehreren Möglichkeiten, Verhalten zu beeinflussen. Untersuchungen zeigen, dass Verhaltensänderungen nach Strafen zwar durchaus ein paar Monate wirken können, je nach Fahrertyp aber auch bloß ein paar Wochen oder sogar gar nicht. Wichtig: die zugrundeliegenden Einstellungen werden dadurch nicht verändert. Und: Ärger darüber, dass man in einer Situation, die nicht unmittelbar verkehrsunsicher erscheint bei einer Radarkontrolle geblitzt worden ist, kann Einsicht sogar noch torpedieren und negative Einstellungen verfestigen.
"Sicherheit ist kein Primärmotiv für Verkehrsteilnehmer"
Der NRW-Innenminister will mit dem Blitzmarathon langfristig die Regeltreue von Autofahrern beeinflussen. Kann das gelingen?
Fastenmeier: Es zeigt sich, dass erzieherische Maßnahmen durchaus sinnvoll sind und nachhaltig wirken können. Generell gilt jedoch: Dazu muss für Verkehrsteilnehmer nachvollziehbar sein, warum an bestimmten Stellen der Verkehr überwacht wird – etwa weil es sich um Unfallschwerpunkte durch Tempoüberschreitungen handelt.
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Ist es eigentlich realistisch, dass wir Verkehrsregeln zu 100 Prozent beachten?
Fastenmeier: Verkehrsteilnahme ist mehr als Regeln zu wissen und zu befolgen. Verkehr stellt hohe Anforderungen an die psychomentale Struktur eines Menschen, an soziale Verhaltensweisen und an das Risikobewusstsein. Vor allem, da sich Verkehr heute derart verdichtet und damit Stress produziert. Zudem sollte man sich vor Augen halten: Sicherheit ist kein Primärmotiv für die Verkehrsteilnehmer, sondern die Mobilität. Und das heißt: Wer im Straßenverkehr unterwegs ist, will in erster Linie von A nach B kommen und das möglichst schnell, bequem und ungehindert.