Brüssel. Konservative vorn, Sozialdemokraten knapp dahinter, extreme Rechte vielfach gestärkt: Nach der Europawahl in 28 Ländern bleibt das Rennen um den Brüsseler EU-Chefposten vorerst offen. In Deutschland droht der großen Koalition deswegen nun eine Belastungsprobe.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) rechnet mit wochenlangen Verhandlungen über die Besetzung der künftigen EU-Spitzenfunktionen. "Wir brauchen ein europäisches Personalpaket", sagte die CDU-Chefin am Montag nach Sitzungen der Spitzengremien in Berlin. Sie betonte, dass Luxemburgs Ex-Regierungschef Jean-Claude Juncker der Kandidat der konservartiven Europäischen Volkspartei sei. Weder diese noch die europäischen Sozialisten könnten den künftigen Kommissionspräsidenten aber alleine bestimmen. Darüber seien intensive Gespräche zu führen. Merkel machte klar, dass sie mit den Staats- und Regierungschefs auch über den inhaltlichen Kurs der künftigen Kommission sprechen wolle.

Juncker liegt vorne - so geht es nach der Europawahl weiter

Um kurz nach 18 Uhr am Sonntag hatte Jean-Claude Juncker gewonnen. „30 Sitze Vorsprung“ werde die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) im nächsten Europa-Parlament haben, verkündete Junckers Wahlkampfmanager Martin Selmayr. Damit wäre dem langjährigen Luxemburger Premier der Posten des Brüsseler Kommissionspräsidenten kaum mehr zu nehmen, für den er sich als EVP-Spitzenkandidat beworben hatte. Nur 20 Minuten später war derselbe Selmayr schon bescheidener geworden: Der Vorsprung betrage „20 Sitze oder mehr“.

Als das EP dann nach 22 Uhr eine erste Schätzung veröffentlichte, lag die EVP noch 18 Sitze voraus – weiter stärkste Kraft, aber mit stark geschrumpftem Übergewicht – und entsprechend weniger vollmundigen Ansprüchen: Die EVP werde „ihren Kandidaten als Kandidaten für die Präsidentschaft der Kommission vorschlagen“, erklärte der scheidende EVP-Fraktionschef Joseph Daul. Junckers Haupt-Rivale, der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz, kündigte seinerseits an, er werde sich in der neuen Volksvertretung um eine Mehrheit für seine Bewerbung um die Nachfolge des portugiesischen Kommissionschefs Barroso bemühen

Letzte Wahllokale schlossen in Italien um 23 Uhr

Nach Mitternacht schließlich war es an Jean-Claude Juncker selbst zu bekräftigen, die EVP habe „diese Wahlen glasklar gewonnen“ und er, ihr Spitzenkandidat, habe damit das Recht, als erster sich um eine Mehrheit der Abgeordneten zu bemühen.

Tatsächlich war an diesem Abend bei der zentralen Stimmenerfassung am Brüsseler Amtssitz des Europa-Parlaments weniges so offen wie die Kern-Frage, wer die der Abstimmung in den 28 Mitgliedstaaten der EU eigentlich gewonnen hat. Kein Wunder – die letzten Wahllokale in Italien schlossen erst um 23 Uhr, und bis dahin durften auch aus anderen Ländern keine offiziellen Resultate veröffentlicht werden.

Das vorläufige Endergebnis bestätigte schließlich den Sieg der konservativen EVP. Mit 28,23 Prozent landete diese allerdings

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deutlich hinter ihrem Ergebnis von 2009 (35,77%). Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) mit ihrem Spitzenkandidaten Martin Schulz kam auf 24,77 Prozent. Die Liberalen holten 9,32 Prozent. Die EVP hat nach diesem Ergebnis 212 der 751 Sitze im Europaparlament - und damit 26 mehr als die SPE (186 Sitze).

Fraktionen werden sich erst in den nächsten drei Wochen sortieren

Auch die vorläufigen amtlichen Zahlen schaffen also keine letzte Klarheit. Am Montag berät in Berlin die Kanzlerin mit ihrem Koalitionspartner Sigmar Gabriel das EU-Ergebnis, tags darauf tagen in Brüssel die - bisherigen - Chefs der EP-Fraktionen, am selben Abend treffen sich Merkel und Co zum Sondergipfel.

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Die Fraktionen werden sich erst in den nächsten drei Wochen sortieren. Wer stößt zu wem? - da kann es noch erhebliche Verschiebungen geben. So steht die liberale ALDE-Fraktion mit kleineren Parteien aus sechs Mitgliedstaaten im Gespräch. Wenn es klappt, hätte ALDE drei Mandatsträger mehr als bislang, nicht 12 weniger als in der Projektion.

Euro-Skeptiker und Populisten legten bei Europawahl zu

Auch die Zahlen zum Bürger-Interesse lassen sich unterschiedlich deuten. Auf 43,11 taxierte das Parlament die Beteiligung in seiner ersten Schätzung – nur minimal höher als die mickrigen 43 Prozent von 2009. Gemessen an der wenig europafreundlichen Gesamtstimmung und an der vielerorts greifbaren Krisen-Verdrossenheit kann man das für einen passablen Wert halten. Die erhoffte Schub-Umkehr durch die Neu-Inszenierung mit der Spitzenkandidatur war es aber nicht. Und auch der Ukraine-Effekt, von dem Wahlkämpfer und Meinungsforscher vorher berichtet hatten, verpuffte im Zählergebnis. Beim Blick nach Moskau seien viele Bürger jetzt „dankbar, in der EU von Freunden und Partnern umgeben zu sein“, hatte Alexander Graf Lambsdorff beobachtet. Aber das waren wohl solche, die ohnehin wählen wollten.

Europawahl 2014Die Euro-Skeptiker und Populisten vor allem vom rechten Rand kommen nach den Daten des Wahlabends auf bis zu 180 Mandate. Sie schnitten aber in ihren jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich ab. In Frankreich wurde der extremistische Front National erstmals stärkste Kraft. Auch die euroskeptische UKIP in Großbritannien schaffte den von den Meinungsforschern vorhergesagten Erfolg. In den Niederlanden und Belgien blieben die Euroskeptiker hingegen hinter den selbstgesteckten Zielen zurück. Jedenfalls gebe es „eine deutliche proeuropäishe Mehrheit in diesem Parlament“, erklärte Juncker.