Berlin. Die Grünen wollen sich nach ihrer Wahlniederlage personell und inhaltlich völlig neu aufstellen. Auf einem überfüllten kleinen Parteitag rief Parteichef Cem Özdemir am Samstag in Berlin zu einem Neuaufbruch auf. “Ein 'Weiter so' kann und darf es nicht geben.“
Die Grünen müssen aus Sicht ihres Parteichefs Cem Özdemir ernsthaft ein Regierungsbündnis mit der SPD und der Linkspartei ausloten. Die Partei müsse einen Kurs der Eigenständigkeit einschlagen und sich nicht einseitig auf ein mögliches Bündnis mit der Union festlegen, sagte Özdemir auf dem kleinen Parteitag der Grünen am Samstag in Berlin. "Kurs der Eigenständigkeit kann auch heißen, dass man Rot-Rot-Grün probiert." Die Linkspartei rief er auf, die Schuldenbremse zu akzeptieren. Dann könne man mit ihnen auch reden.
Auch Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin erklärte, die Grünen seien bereit, mit allen Bundestagsparteien über ein Regierungsbündnis zu reden. Neben der Durchsetzung grüner Ziele müsse dabei entscheidend sein, dass die Regierung stabil werde und nicht vor Ablauf der Legislaturperiode auseinanderbreche. Bei vorgezogenen Neuwahlen drohe ein Einzug der Anti-Euro-Partei AfD und der FDP in den Bundestag.
Selbstkritik nach der Wahlniederlage
Ein rot-rot-grünes Bündnis galt bei vielen Grünen als ausgeschlossen, unter anderem weil die Linkspartei Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnt. Nach der Bundestagswahl ist rechnerisch auch eine große Koalition oder ein schwarz-grünes Bündnis möglich. Diese Möglichkeit wird aber in der Union wie bei den Grünen mit großer Skepsis gesehen.
Führende Grüne äußerten sich auf dem kleinen Parteitag selbstkritisch zum zurückliegenden Wahlkampf - zum zukünftigen Kurs gab es unterschiedliche Forderungen. Während der bisherige Spitzenkandidat Jürgen Trittin sozialpolitische Forderungen der Grünen im Grundsatz verteidigte, forderten etwa die mögliche künftige Fraktionschefin Kerstin Andreae sowie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann grundlegendere Korrekturen.
Kretschmann sieht Platz "in der Mitte der Gesellschaft"
"Unser Platz ist in der Mitte der Gesellschaft", sagte Kretschmann am Rande der Beratungen. Er warnte davor, das Thema Verteilungsgerechtigkeit zu stark zu betonen, denn dieses Thema sei von SPD und Linken schon besetzt. "Die Grünen sollten sich mit anderen Themen beschäftigen", mahnte er eine Rückbesinnung auf traditionelle Kernkompetenzen an.
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Andreae rief dazu auf, zum Beispiel den steuerpolitischen Teil des Programms zu hinterfragen und jetzt nicht zu sagen: "Wir erklären es noch ein bisschen länger." Vertrauen zurückgewinnen heiße auch, "Brücken zu den Unternehmen wieder zu schlagen", sagte die Wirtschaftsexpertin, die sich um den Fraktionsvorsitz der Grünen als Nachfolgerin von Renate Künast bewirbt.
Steffi Lemke verzichtet auf Kandidatur
Die Bundesgeschäftsführerin der Grünen, Steffi Lemke, verzichtet unterdessen auf eine Kandidatur für den Parteivorsitz. "Angesichts der gegenwärtigen strategischen Aufstellung der Grünen ist mir eine Kandidatur (...) nicht möglich", sagte sie der "Süddeutschen Zeitung".
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Bislang hatte Lemke offengelassen, ob sie sich für die Nachfolge von Claudia Roth bewerben will, die als Konsequenz aus der Wahlniederlage nicht mehr antritt. Damit verbleibt als einzige Kandidatin der Parteilinken die saarländische Landtagsabgeordnete Simone Peter. Der Co-Vorsitzende und Realo Özdemir will sich beim Parteitag am 19. und 20. Oktober zur Wiederwahl stellen.
Etappensieg für Kerstin Andreae
Unter den Bewerbern für den Vorsitz der neuen Bundestagsfraktion konnte die Wirtschaftsexpertin Kerstin Andreae in der Nacht zum Samstag bei einem Treffen der Realos einen Etappensieg verbuchen. Nach Teilnehmerangaben war die Stimmung unter den über 200 Teilnehmern eindeutig aufseiten der 44-Jährigen. Während ihrer Rede sei mehrfach applaudiert worden. Die Zustimmung für ihre Gegenkandidatin Katrin Göring-Eckardt sei klar geringer gewesen.
Göring-Eckardt führte die Grünen gemeinsam mit Trittin in den Bundestagswahlkampf und bewirbt sich wie Andreae als Nachfolgerin der Realo-Vertreterin Renate Künast, die sich aus der Fraktionsspitze zurückzieht. Aufseiten der Parteilinken gilt der Verkehrsexperte Anton Hofreiter als Nachfolger von Co-Fraktionschef Trittin als gesetzt. Die Abgeordneten wählen am 08. Oktober eine neue Spitze. (rtr/afp/dpa)