Essen. Mohamed Bouazizi wollte nur seine Familie ernähren. Am 17. Dezember 2010 setzte sich der arbeitslose Universitätsabsolvent in Brand. Über die sozialen Medien verbreitet sich der Protest einer sich gegen Armut, Perspektivlosigkeit und Unterdrückung auflehnenden Massenbewegung in der gesamten arabischen Welt.
Mohamed Bouazizi wollte nicht die Welt verändern. Er wollte seine Familie ernähren, indem in der 40.000 Einwohner zählenden tunesischen Stadt Sidi Bouzid Gemüse verkauft. Der 26-Jährige arbeitslose Universitätsabsolvent hatte dafür keine behördliche Genehmigung und die Staatsmacht reagierte unerbittlich. Am 17. Dezember 2010 setzte sich Bouazizi in Brand, am 4. Januar erlag er in einem Krankenhaus seinen Verletzungen.
Einen Monat nach der Verzweiflungstat ist das autoritäre Regime von Präsident Zine el Abidine Ben Ali am Ende. Ben Ali flieht bereits in der Nacht zum 15. Januar ins saudiarabische Exil. Der Funke springt auf Ägypten über, wo sich der langjährige Machthaber Husni Mubarak am 11. Februar den Massenprotesten nach 18 Tagen beugt und zurücktritt. Über die sozialen Medien wie Twitter, Facebook und YouTube verbreitet sich der Protest einer sich gegen Armut, Perspektivlosigkeit und Unterdrückung auflehnenden Massenbewegung in der gesamten arabischen Welt.
Krieg in Libyen
Im ölreichen Libyen entwickelt sich nach ersten Protesten im Februar ein Bürgerkrieg, den Vereinte Nationen und die NATO mit dem Entschluss zur Durchsetzung einer Flugverbotszone in letzter Minute zugunsten der Rebellen entscheiden. Am 17. März stehen die Truppen von Machthaber Muammar Gaddafi vor der Rebellenhochburg Bengasi; einen Tag später beschließt der UN-Sicherheitsrat bei Enthaltung Deutschlands einen Militäreinsatz zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung.
Am 19. März stoppen französische Kampfjets die Offensive Gaddafis. Dessen Militär- und Söldnerapparat wird von der NATO in der Folge mit Luftangriffen systematisch zerschlagen. Im August erreichen die Rebellen Tripolis. Gaddafi taucht am 23. August unter; am 20. Oktober wird er nach seiner Gefangennahme in der Nähe seiner Geburtsstadt Sirte erschossen.
Keine internationale Intervention in Syrien
Parallel dazu entwickeln sich vor allem in Syrien, Bahrain und Jemen Massenproteste gegen autoritäre Regime, in denen die internationale Gemeinschaft aber nicht wie in Libyen interveniert. Der syrische Präsident Baschar Assad verspricht auf der einen Seite Reformen und lässt auf der anderen Seite Soldaten auf Demonstranten schießen. Tausende werden nach Schätzung von Menschenrechtsgruppen bei der blutigen Niederschlagung von Protesten in Syrien getötet. Die Welt erfährt davon nur durch Augenzeugen über Twitter, Facebook und YouTube: Internationalen Journalisten wurde vom Regime die Arbeit in Syrien verboten. Die Berichte, Fotos und Filme - viele davon mit Handys heimlich aufgenommen - gelangen trotz Zensur ins Internet, sind aber nicht verifizierbar.
In Bahrain beendet eine saudiarabische Intervention Mitte März den von der schiitischen Bevölkerungsmehrheit getragenen Protest gegen das sunnitische Herrscherhaus. Im Jemen taktiert Präsident Ali Abdullah Saleh zwischen brutaler Repression und Rücktrittsversprechungen. Am 23. November schließlich stimmt er in der saudiarabischen Stadt Riad seinem Rücktritt gegen die Zusage strafrechtlicher Immunität zu. Saleh ist nach Ben Ali, Mubarak und Gaddafi der vierte langjährige arabische Machthaber, dessen Herrschaft infolge des "arabischen Frühlings" beendet werden soll.
Lange Ratlosigkeit im Westen
Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die USA, Israel und die EU, haben sich mit den arabischen Volksbewegungen schwergetan. Sie hatten als Gegenleistung für eine sicherheitspolitische Stabilität in der Region lange über Amtsmissbrauch, Korruption und Menschenrechtsverletzungen hinweggesehen. In Frankreich trat Außenministerin Michèle Alliot-Marie im März zurück, weil sie während der Unruhen bei einem Freund Ben Alis einen Urlaub in Tunesien verbrachte. Staatspräsident Nicolas Sarkozy vollzog als erster westlicher Regierungschef eine radikale Abkehr von den autoritären nordafrikanischen Regierungen. Gaddafi, den er einst hofierte, ließ er fallen. Und es waren auch französische Kampfjets, die den Sieg des Machthabers über die Rebellion verhinderten.
Deutschland brachte sich mit der Enthaltung zum NATO-Flugverbot in Libyen in eine international schwierige Lage; statt bei den Verbündeten von EU und NATO fand es sich im Lager von China und Russland wieder, die mit ihrem Vetorecht im UN-Sicherheitsrat auch aus eigenen innenpolitischen Erwägungen ein geschlossenes internationales Vorgehen etwa in Syrien und Jemen blockierten.
Die USA rangen sichtlich und lange mit der Loyalität zu einem langjährigen Verbündeten wie Mubarak und der Unterstützung einer Volksbewegung, die überwiegend als islamistisch und damit auch als Gefahr für den Verbündeten Israel gesehen wurde. Die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung in Tunesien und die erste Runde der Parlamentswahl in Ägypten brachten Mehrheiten für islamisch orientierte Parteien.
Die Menschen "ein wenig vergessen"
Mohamed Bouazizi hatte sich über all das wohl keine Gedanken gemacht. Er wurde zum Symbol einer "verlorenen Generation" - über die Hälfte der Tunesier sind jünger als 22 Jahre. Und in Tunesien, Ägypten und Jemen sind Schätzungen zufolge 20 bis 40 Prozent der Jungen arbeitslos. "Wir wussten alle, wie er sich fühlte", sagte ein gleichaltriger Tunesier im Januar einer AP-Korrespondentin. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn stellte Ende Januar selbstkritisch fest, dass die EU in ihrer Nahost- und Nordafrikapolitik die dort lebenden Menschen "ein wenig vergessen" habe.
Der Tod eines studierten, unerlaubt mit Gemüse handelnden jungen Mannes hat das nun verändert, ist für die arabische Welt zum Fanal geworden wie die Selbstverbrennung Jan Palachs am 16. Januar 1969 aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings. Auch das war der Anfang eines langen Wegs. (dapd)
Mubarak vor Gericht
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