Witten. . In Witten können viele Rentner von ihren Bezügen nicht leben. Manche können sich nicht einmal frisches Obst oder Gemüse leisten. Zwei Betroffene erzählen, wie sehr sie unter den finanziellen Sorgen leiden und wie sie versuchen, täglich über die Runden zu kommen.
„Ich habe 45 Jahre lang geklebt“, erzählt Anna und atmet tief ein. „Aber frisches Obst und Gemüse aus dem Supermarkt kann ich mir nicht leisten.“ Deshalb geht die 83-Jährige zur Wittener Tafel, um zu Mini-Preisen einkaufen zu können. Altersarmut ist ein wachsendes Problem. Auch in Witten.
Anna heißt nicht wirklich so, aber sie möchte nicht, dass ihre Nachbarn wissen, wie wenig Geld sie zur Verfügung hat. Sie trägt ein hübsches Kleid, ihre grauen Haare sind sorgfältig frisiert. Wie bei so vielen anderen Rentnern, die an diesem Donnerstagvormittag bei der Tafel ihre Einkaufstasche füllen, würde man nie auf die Idee kommen, dass sie finanzielle Sorgen hat. Doch Lebensmittel von der Tafel bekommt nur, wer einen Bescheid vom Jobcenter oder Sozialamt vorweisen kann. Und den gibt’s nicht für Gutverdiener.
Anna musste nach dem Krieg aus Ostpreußen fliehen. Im Ruhrgebiet fand sie in ihrem erlernten Job als Kauffrau keine Anstellung und schuftete dann fast vier Jahrzehnte als Lagerarbeiterin. „Ich war den ganzen Tag auf den Beinen, habe immer Überstunden gemacht.“ Jetzt sei sie froh, dass sie noch laufen könne. Sonst würde sie nicht zur Tafel kommen. „Ohne die wäre ich verloren.“
Sie lebt alleine, erzählt sie. Von ihrem Mann habe sie sich vor vielen Jahren scheiden lassen, der einzige Sohn und die Enkel wohnten in den neuen Bundesländern. Gerade war sie zu Besuch bei ihrer Familie. „Jetzt bin ich wieder zurück und mein Kühlschrank ist leer.“ Deshalb sei sie morgens schnell zur Tafel gelaufen, „da ist es noch nicht so heiß“.
Bedarf insgesamt sehr hoch
„60 bis 65 Prozent unserer Kunden sind Rentner“, sagt Christine Schreiber (63), Vorstand der Wittener Tafel. Diese Zahl sei in den letzten Jahren konstant geblieben. Der Bedarf sei aber insgesamt sehr hoch: Durchschnittlich 60 Kunden kämen pro Tag in den Tafel-Laden an der Herbeder Straße 22. Am Ende des Monats, wenn das Geld knapp werde, seien es oft noch viel mehr, erzählt eine Mitarbeiterin der Tafel.
Anna bleiben nach Abzug der Kosten für Miete, Versicherungen, Strom, Licht und Gas von ihrer Rente gerade mal 200 Euro pro Monat, sagt sie. Das Paradies, das wäre „mal ohne nachzudenken einkaufen zu gehen. Das zu kaufen, auf das ich Appetit habe“. Eine Bekannte von ihr habe eine Rente von 1800 Euro, das Doppelte ihrer Bezüge, erzählt sie. „Da schwirrt mir der Kopf.“ Ein Theater habe sie schon so lange nicht mehr von innen gesehen, „dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, wie es aussieht“. Und an den Geschmack ihrer Lieblingsfischsorten Heilbutt und Schillerlocken könne sie sich auch kaum noch erinnern.
Eine ganz ähnliche Geschichte hat Thea zu erzählen. Auch die 69-Jährige möchte ihre wirklichen Namen nicht in der Zeitung lesen. Ihr Mann und sie waren lange selbstständig, scheiterten dann aber. Natürlich hätten sie für die Rente vorgesorgt, aber das zahlte sich nicht aus. Nach der Insolvenz schleppte ihr Mann Möbel, sie versuchte dazuzuverdienen, denn mit der Pleite kamen auch hohe Schulden. Aber da waren noch die fünf Kinder, um die sie sich kümmern musste. „Damals gab’s noch kein Elterngeld und das Kindergeld sah auch anders aus“, erzählt Thea. 50 Mark alle zwei Monate habe es für das erste Kind gegeben, fürs zweite 70 Mark. Alles keine Mengen.
200 Euro für zwei Personen
Jetzt bekomme sie um die 200 Euro Rente („mal mehr, mal weniger“), ihr Mann etwa 700 Euro. 200 blieben dann zum Leben übrig für die zwei, erzählt sie. Geschenke für die vielen Enkel und Urenkel seien da leider nur sehr selten möglich. Und was Schönes für sich selber habe sie sich schon seit Jahren nicht mehr gekauft, sagt die 69-Jährige, die wie Anna sehr viel Wert auf ihr Äußeres legt. Die Haare sind frisiert, das Gesicht ist dezent geschminkt, das T-Shirt modern asymmetrisch „Ich trage das, was ich früher kaufen konnte, als wir noch gearbeitet haben.“ Beide seien chronisch krank, nicht alle Medikamente übernehme die Kasse.
Gerne würde sie mal wieder in den Urlaub fahren, mal wie früher einkaufen gehen. Das sei aber nicht möglich. „Mein Mann hat nie krank gefeiert, hatte immer Arbeit.“ Dass sie jetzt zur Tafel gehen müsse, um gesundes Essen zu kaufen, sei nicht das, was sie sich fürs Alter vorgestellt hatten, meint Thea. „Was wir haben, ist zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Ach eigentlich auch zu wenig zum Sterben, denn das ist ja auch teuer.“