Witten. Trotz der in diesem Jahr entfallenen Fördergelder von Stadt und Land hat der WDR die 44. Wittener Tage für neue Kammermusik „gerettet“. Im Interview spricht WDR 3-Redakteur Harry Vogt über die Höhepunkte und die Zukunft des Festivals, das am Freitagabend startet.

WAZ/WR: Wie lange im Voraus läuft bereits die Organisation?

Harry Vogt: Die Vorbereitungen für einen „Jahrgang“ des Festivals beginnen mindestens zwei Jahre vorher. Denn fast alles, was hier erklingt, wird ja eigens für Witten geschrieben und muss früh genug in Auftrag gegeben werden. Auch Programmideen und Konzeptionen müssen entwickelt werden und reifen. Auf einige Stücke warten wir, wenn es sein muss, auch länger. Etwa auf das Streichquartett von Hans Abrahamsen, das ich vor genau 20 Jahren in Auftrag gegeben habe. Es ist damals nicht entstanden, da der dänische Komponist durch eine tiefe Krise blockiert war. Erst jetzt, 2012, hat er den „alten“ Wittener Wunsch erfüllt und das Quartett fertig gestellt.

WAZ/WR: Was macht für Sie persönlich die Faszination für neue Kammermusik aus?

Vogt: In der Kammermusik passiert meiner Meinung nach mehr als in anderen Gattungen oder Genres. Es ist ein Experimentierfeld für kompositorische Entwicklungen. Viele Impulse kommen aus der Kraft des Kleinen, aus der für Kammermusik typischen Konzentration, auch aus der Art, wie Musiker miteinander kommunizieren. Meistens spielen sie hier ohne Dirigent, übernehmen mehr Verantwortung für das Ganze, hören stärker aufeinander.

WAZ/WR: Wie haben sich die Besucherzahlen in den letzten Jahren entwickelt?

Vogt: Die Besucherzahlen sind konstant, interessanterweise auch, was das Alter betrifft: Bei den Kammermusiktagen dominieren nicht, wie sonst in der klassischen Musik, grau melierte Haare. Im Publikum mischt sich Alt und Jung, und jährlich kommen neue Besucher, auch ganz junge, dazu.

WAZ/WR: Was sind Ihre persönlichen Highlights in diesem Jahr?

Vogt: Ein Höhepunkt verspricht das Gipfeltreffen der beiden führenden „Viererketten“ zu werden: wenn die Ardittis aus London und das junge „JACK Quartet“ aus New York erstmals zusammenspielen. Oder das Debüt des WDR Symphonieorchesters Köln, das zusammen mit dem WDR Rundfunkchor erstmals auftritt. Beide Klangkörper sind auch an der Uraufführung von Giacinto Scelsi beteiligt, die ich für Witten sichern konnte. Es ist ein etwa 40 Jahre altes Werk für Stimmen und Kammerorchester, auf das viele sehr gespannt sind. Scelsi ist ein legendärer Komponist, der 1985 in Witten porträtiert wurde, 1988 gestorben ist und in der Szene fast Kultstatus genießt. Seine Musik ist meist meditativ, in diesem Fall aber sehr heftig: eine Art ekstatisches Ritual.

WAZ/WR: Wie sieht die Zukunft der Kammermusiktage aus? Planen Sie schon die nächste Ausgabe?

Vogt: Pläne gibt es für die nächsten zwei bis drei Jahre, darunter sehr konkrete.

WAZ/WR: Bislang hält der WDR am Standort Witten fest. Wäre es denkbar, das Festival künftig an einem anderen Ort durchzuführen, falls der städtische Haushalt keine öffentlichen Zuschüsse mehr zulassen sollte?

Vogt: Sicher kann man Kammermusiktage auch in anderen Städten veranstalten. Dafür dürfte es einige Interessenten geben. Doch es gibt keinen Grund, sich nach einer Alternative umzusehen, solange nicht alle Möglichkeiten für eine Lösung ausgeschöpft sind. – Die Veranstaltung gehört hierher, sie ist eine Wittener Initiative. Sie wurde 1936 - also vor nunmehr 76 Jahren - von dem Wittener Musiklehrer und Komponisten Robert Ruthenfranz ins Leben gerufen und kontinuierlich, seit 1969 zusammen mit dem WDR, zu dem entwickelt, als was sie heute weltweit gilt: eines der tonangebenden Festivals für das Neue in der Kammermusik.