Witten. .

Durch die Kammermusiktage hat die Stadt Witten bei Komponisten einen guten Ruf. Dem Festival wird eine „tolle Entwicklung“ bescheinigt.

Die Tage für neue Kammermusik sind es, die Witten weltweit bekannt gemacht haben. Das meint jedenfalls Hans Zender, mit seinen fast 75 Lebensjahren einer der erfahrensten lebenden deutschen Komponisten.

„Das Festival hat sich international durchgesetzt“, sagte er am Rand des Abschlusskonzerts am Wochenende, „es hat bei den Komponisten einen Namen. Das ist eine hoffnungsvolle Entwicklung.“ Zender ist einer der zwei Dutzend Komponisten, an deren Werken sich diesmal der Stand der Dinge in Sachen neuer Musik ablesen ließ. Die Teilnehmer reisten weltweit an, aus Europa, USA, Argentinien und Japan.

Stefano Gervasoni als zentrale Figur der Kammermusiktage

Witten ist ein Seismograph für das Kommende: Kammermusik „darf“ experimentell sein; in der Regel fördert der sparsame Mitteleinsatz die Lust am Ausprobieren, ist doch eine Aufführung nicht so aufwendig wie bei einem groß besetzten Werk.

In diesem Jahr war der italienische Komponist Stefano Gervasoni eine zentrale Figur der Kammermusiktage. Er nennt seine Kunst selbst „arte povera“ – aber seine Musik ist nicht „arm“ an Ideen, sondern nimmt sich selbst zurück in der Wahl ihrer Mittel. Ausdruck erreicht er nicht durch Ausreizen aller Möglichkeiten, sondern durch einen „Prozess des Filterns und Zurückhaltens“.

Gervasoni stammt aus Bergamo, der Stadt der Komponisten Gaetano Donizetti und Simon Mayr. 1962 geboren, studierte er auch bei György Ligeti, einer Ikone der modernen Musik. Seit 2007 lehrt er in Paris. Die Kammermusiktage brachten einen repräsentativen Überblick seiner neuen Kammermusik: „Dir – In Dir“ für sechs Stimmen und Streichquartett nach Angelus Silesius von 2003/04 etwa. Es hat Spannungen zwischen dem „inneren Ich“ jedes Menschen und dem Göttlichen „Du“ zum Inhalt. Gervasoni lässt sich oft von Dichtern aus verschiedenen Sprachkreisen inspirieren, etwa in den „Aster Liedern“ von Rilke, Hölderlin oder Zweig.

Mikrotonalität ist der Trend

Als einen der Trends im Komponieren macht Hans Zender die „Mikrotonalität“ aus. Diese Art Musik arbeitet mit kleinsten Intervallen. Mikrotonalität war in der westlichen Musik schon immer bekannt, wurde aber nur sporadisch eingesetzt. Als ein Pionier ihrer systematischen Erschließung gilt etwa John Cage, der 2012 bereits 100 Jahre alt würde.

Undefinierte, „schräge“ Tonhöhen, allmähliche Veränderungen eines Tons nach oben oder unten, Passagen, die für unsere Ohren arabisch oder exotisch klingen: So hört sich Mikrotonalität an. Im Abschlusskonzert etwa erklangen zwei Szenen aus der entstehenden Oper „Wasser“ von Arnulf Hermann. Eine eiernde Schallplatte gibt dem „Seestück (Traum)“ die Begleitung; ein Tenor (Sebastian Hübner) singt von einer geheimnisvollen Spiegelung in einem Waldsee. Im Gesang sind die Töne stets gefährdet, abzurutschen. Die fahl und gläsern vorgetragenen Worte gipfeln in „Ich“.

So steht dieses Werk, wie auch das eindrucksvoll komplexe „Issey no kyo“ von Hans Zender, unter dem Thema der Infragestellung des „Ich“, das die Kammermusiktage durchzog. Den Interpreten – hier dem Ensemble Modern unter Johannes Kalitzke – gebührt für ihre Hingabe und ausgereifte Könnerschaft höchste Anerkennung. Und ohne das Kulturradio WDR 3 und den jahrelangen persönlichen Einsatz des Redakteurs Harry Vogt – davon ist Komponist Hans Zender überzeugt – wäre diese „tolle Entwicklung“ in Witten nicht möglich.