Witten. Jeden Tag taucht er an zentralen Orten in Witten auf: Ein Mann mit Turban liest stundenlang den Koran, der Welt entrückt. Seine Gründe.

  • Ein als Scheich verkleideter Mann drapiert sich wie ein Kunstwerk auf öffentlichen Plätzen
  • Amer Ghanem kam 2015 als Flüchtling aus Syrien und lebt nun im Obdachlosenheim
  • Inzwischen widmet er sein Leben Gott

Er gehört inzwischen in Witten zum Stadtbild: Ein als Scheich verkleideter Mann sitzt an öffentlichen Plätzen und liest konzentriert in seinem Koran. Mal mitten auf der Ruhrdeich-Kreuzung, mal am Eingang zum Stadtpark an der Ruhrstraße, mal mitten in der Innenstadt. Kürzlich stand er mitten in den Fontänen der Wasserspiele am Berliner Platz. Warum tut er das?

Bei unserem ersten Gespräch im Januar hat sich der Koranleser auf die Schnecke am Berliner Platz drapiert. Während sich alle um ihn herum in dicke Winterjacken mummeln und dem Regen entfliehen, bietet er das Alternativschauspiel: Achselhemd, kurze Hose, entspannter Blick. Der Regenschirm schützt nur sein selbst gebautes Lesetablett, das er weihnachtlich dekoriert hat. Darauf liegt der Koran. Als Kinder auf dem wellenförmigen Mäuerchen spielen wollen, steht er schnell auf. „Ich möchte ja nicht stören“, sagt der Mann mit dem Turban und dem dichten grau-schwarzen Bart.

Aus Syrien nach Witten geflohen

Stören tut und will Amer Ghanem niemanden. Er wundert sich regelrecht über Nachfragen. Aber es ist ungewöhnlich, wenn jemand über Stunden völlig unbewegt, mitunter in absurden Posen in sein Buch guckt, völlig entrückt von der Welt! „Was ist so komisch daran“, fragt Amer Ghanem. „Ich sitze und lese ein Buch.“ Und zwar im Auftrag Gottes: „Mein Gott bezahlt mich für meine Arbeit.“ Aber friert er denn nicht? Die Liebe zu Gott lasse ihn nicht frieren, entgegnet der 48-Jährige freundlich.

Amer Ghanem sitzt regelmäßig unbeweglich wie ein lebendiges „Kunstwerk“  auf einer Bank am Stadtpark - hier im Dezember 2021.
Amer Ghanem sitzt regelmäßig unbeweglich wie ein lebendiges „Kunstwerk“ auf einer Bank am Stadtpark - hier im Dezember 2021. © FUNKE Foto Services | Barbara Zabka

Ein bisschen kommt der prominente Koran-Leser aber doch ins Plaudern. Gebürtig kommt er aus Syrien. Er kam 2015 mit der großen Flüchtlingswelle nach Deutschland, erst nach Siegen, später nach Witten. Inzwischen lebe er in der städtischen Obdachlosenunterkunft am Mühlengraben. Seine langen Draußen-Aufenthalte scheinen auch Flucht vor den Mitbewohnern zu sein. „Es ist viel zu laut, die Leute, die Musik. Manchmal sind welche besoffen“, sagt er, in ziemlich gutem Deutsch.

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Dann mache er sich auf in die Stadt, um ein Brötchen zu kaufen und seinen Leseplatz zu suchen. Er stöpselt sich Ohrenstöpsel ins Ohr und legt los. Exakt 220 Seiten lese er pro Tag. Zum Vergleich: Seine Koran-Ausgabe habe insgesamt 600 Seiten. Alle drei Tage also das Gleiche erneut - kann er den Text denn nicht auswendig? Da lacht Amer Ghanem: „Ja, inzwischen schon.“

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Seit Herbst 2021 ist der Koran-Leser im Wittener Stadtbild präsent. Anfangs trug der Syrer noch ein weißes Gewand, saß auch nachts, dick eingepackt auf einer Bank. So vielen gibt er Rätsel auf, aber wird er häufig von Passanten angesprochen? „Viele gucken komisch, aber kaum jemand sagt etwas. Aber das ist mir egal. Ich sage anderen auch nicht, was falsch ist“, erklärt er. „Und was kann daran falsch sein, ein Buch zu lesen?“

Diesen Text haben wir erstmals im Januar 2024 veröffentlicht. Weil der Koranleser zurzeit wieder viel durch die Innenstadt läuft, haben wir uns für eine Wiederveröffentlichung entschieden.