Witten. Das Wittener Jugendamt weiß oftmals nicht mehr ein noch aus: Es fehlen Heimplätze, um Kinder in Obhut zu nehmen. Die Lage spitzt sich zu.

Das Jugendamt Witten schlägt Alarm. Kinder und Jugendliche in Wohngruppen und Heimen unterzubringen, wird immer schwieriger. In den Einrichtungen fehlen Plätze. Die Lage spitzt sich zu, Mehrbelastungen auf breiter Front sind die Folge.

Allein im vergangenen Jahr hat das Jugendamt Witten 60 Heranwachsende in Obhut genommen. Entweder hatten Familiengerichte entschieden, dass eine Kindeswohlgefährdung vorgelegen hat oder es handelte sich um eingereiste Minderjährige aus dem Ausland, die in Witten eine Zuflucht suchten. In 2023 sind es bislang 47.

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Heime und Wohngruppen leiden unter massiven Personalmangel

„Um die Mädchen und Jungen unterzubringen, mangelt es an Plätzen und das in einem enorm wachsenden Maß“, sagt Nina Brons, Leiterin der Abteilung Erziehungshilfe. Der Grund für den Engpass lässt sich ganz klar benennen: „Die Einrichtungen leiden unter Personalnot. Auch ihnen fehlen wie vielen Wirtschaftsbranchen die Fachkräfte.“

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Während kleinere Kinder in der Regel in Pflegefamilien aufgenommen werden, die derzeit ausreichend vorhanden sind, sollen den rechtlichen Vorgaben zufolge ältere Kinder und Jugendliche möglichst in Heimen oder Wohngruppen unterkommen, erläutert die Leiterin. Der Verein Flow aus Bottrop gehört beispielsweise zu den Trägern, die in Witten solche Häuser betreiben.

Neben einem Kinderschutzzentrum für Notaufnahmen gehören Wohngemeinschaften mit 45 Plätzen dazu. Wie krass es derzeit zugeht, erläutert Geschäftsführer Hermann Muß (69). Andernorts habe man schon drei Gruppen schließen müssen, „weil wir schlichtweg keine Mitarbeiter mehr gefunden haben. Der Arbeitsmarkt ist wie leer gefegt.“ Dabei sei es auch so schon schwer genug, Beschäftigte zu locken. Heime gelten mit Schicht- und Wochenenddiensten als unattraktiv.

Nina Brons, Abteilungsleiterin Erziehungshilfen: Die Personalnot in den Heimen belastet die Arbeit der Jugendämter.
Nina Brons, Abteilungsleiterin Erziehungshilfen: Die Personalnot in den Heimen belastet die Arbeit der Jugendämter. © FUNKE Foto Services | Rainer Raffalski

Der Verein sucht händeringend Erzieher, Sozialarbeiter, Heilpädagogen, aber „wir finden sie nicht“. Die Dramatik nehme enorm zu, weil zwei nachteilige Entwicklungen zusammenkommen: Während einerseits die Zahl der Inobhutnahmen steigt, den Prognosen zufolge auch weiter klettern wird und zudem auch die Anzahl Jugendlicher mit psychischen Erkrankungen wächst, „stehen andererseits immer weniger Fachkräfte zur Verfügung“.

Schutzstelle erhält pro Woche bis zu 80 Anrufe

Da die Folgen nicht nur Flow zu spüren bekommt, sondern Einrichtungen bundesweit unter den Engpässen leiden, „ist ein enormer Druck im Kessel“, sagt Muß. Pro Woche, so sagt er, erhält der Verein bis zu 80 Anrufe von Jugendämtern landauf, landab, die dringend Plätze suchen. Wenn die Teams Stunden oder Tage herumtelefonieren müssen, bis ein Kind untergebracht werden kann, „fehlt die Arbeitszeit doch wieder an anderen Stellen“.

Zahl der Inobhutnahmen bundesweit um 40 Prozent gestiegen

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist deutschlandweit die Zahl der Inobhutnahmen im Jahr 2022 um 40 Prozent gestiegen. Es waren mit 66400 Kindern und Jugendlichen 18900 mehr als noch 2021.

Zu dem Anstieg beigetragen haben vor allem zwei Faktoren: Zum einen gab es ein wachsendes Aufkommen an unbegleitet eingereisten Minderjährigen aus dem Ausland, um die sich Jugendämter kümmern. Zum anderen wuchs aber auch die Zahl der Fälle, in denen eine Kindeswohlgefährdung vorlag.

Nina Brons weiß, wovon der Geschäftsführer spricht. Auch im Wittener Jugendamt ist die Suche zu einem enormen Zeitfresser geworden, zumal die Mitarbeiter unter Stress stehen, möglichst schnell einen Platz zu finden. Da so viele Einrichtungen belegt sind, hat das Jugendamt auch schon Kinder im hohen Norden oder in Süddeutschland untergebracht.

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Weiterer Belastungsfaktor: Jugendämter können sich nicht ausschließlich aus der Ferne um die Klientel kümmern, regelmäßige Besuche und Kontakte vor Ort sind zwingend erforderlich, was Mitarbeiter wiederum zeitlich stark bindet. Ferner leiden auch die Kinder und Jugendlichen, wenn sie komplett aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen werden.

Zahl der Kinder und Jugendlichen in psychischen Krisen deutlich gestiegen

Schließlich geraten bewährte Abläufe aus den Fugen. Ein Verein wie Flow hat auch eine bestimmte Summe von Plätzen, die eigentlich für eine Übergangszeit gedacht sind. Der Platz wird aber dann für den Neuankömmling zu einer Dauereinrichtung, wenn die nächste Station, etwa eine Wohngruppe, ausgebucht ist. Das geschieht immer häufiger. „Wir kämpfen ebenso mit Personalmangel, haben kaum Plätze frei“, erklärt Michael Künker, Chef von Via Ruhr und zugleich Sprecher aller Träger von Jugendhilfeeinrichtungen in Witten.

Der Flaschenhals entsteht, weil die Gruppen nämlich auch junge Menschen aus ganz anderen Gründen aufnehmen, beispielsweise, wenn sie in eine psychische Krise geraten sind. Da ist die Nachfrage deutlich gestiegen, betont Künker. Ebenso kümmere man sich um die geflüchteten Minderjährigen, auch hier werden es mehr. Der Sprecher wünscht sich, dass endlich etwas gegen den Fachkräftemangel unternommen wird. Die Politik muss handeln, fordert Nina Brons.

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