Witten. In Witten hat sich die Zahl der Minderjährigen verdoppelt, die ohne Eltern hier ankommen. Das sind die Gründe für ihre gefährliche Flucht.
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die allein oder ohne ihre Eltern Zuflucht in Witten suchen, hat sich verdoppelt. 20 waren es noch vor wenigen Monaten, inzwischen sind es 40. Das ist ein Wert, den es zuletzt vor rund sechs Jahren gab. Die jungen Menschen kommen entweder aus der Ukraine oder aus Syrien, fliehen vor Krieg, Gewalt oder auch aus Angst um ihr Leben.
Der rasante Anstieg lasse sich mit dem herannahenden Winter erklären, sagt Nina Brons vom Jugendamt der Stadt. Die Heranwachsenden befürchten, dass sich die ohnehin schon prekäre Lage in ihrem Heimatland noch weiter verschlimmert. Dann machen sich 14-, 15- oder 16-Jährige auf eine gefährliche Reise, ohne ihr Ziel zu kennen. Hauptsache weg, es kann nur besser werden.
Ankömmlinge in Witten wollen in Sicherheit leben
Manche haben kaum mehr dabei, als sie am Leibe tragen, wenn sie mit Julia Schnittker sprechen, die sich bei der Stadt um die Aufnahme der jungen Flüchtlingen kümmert. Einige haben einen Rucksack dabei, drinnen nur ein paar Habseligkeiten. Während die einen lediglich ein paar Tage unterwegs waren, beispielsweise mit einem Lkw getrampt sind, haben andere schon Wochen, Monate oder auch Jahre auf ihrer Flucht verbracht.
Aber egal wie lange sie gedauert hat, eines hört die 25-jährige Mitarbeiterin des Jugendamtes von allen: „Sie möchten ein Leben in Sicherheit.“ Der Preis, den sie dafür zahlen, ist hoch. Sie verlassen ihre Eltern, ihre Familien und Freunde ohne zu wissen, ob sie sie je wiedersehen, sagt Nina Brons. Wenn sie sich aufmachen, „ist das so gut wie nie eine Nacht- und Nebelaktion, sondern mit den engsten Verwandten abgestimmt.“ Die Familien unterstützen in der Regel den Entschluss, so schwer es allen Beteiligten auch fallen mag. Die Flucht erscheint als der richtige oder einzige Ausweg, um im Fall der Ukraine Bomben und Notstand zu entkommen. Syrische junge Menschen wollen Gewalt und Verfolgung hinter sich lassen.
Jugendliche erleben auf der Flucht Gewalt und Übergriffe
Auf ihrer Flucht versuchen sie den Kontakt mit den daheim aufrechtzuerhalten. Im Zeitalter von Handys scheint das kein Problem zu sein. Doch „dann werden sie ihnen unterwegs geklaut oder in Camps abgenommen“. Dadurch reißt der Kontakt häufig ab, denn Geld für ein neues Handy haben sie nicht. In den von einem Dolmetscher übersetzten Gesprächen hört Julia Schnittker immer wieder, dass die Angst zum ständigen Begleiter wurde. Ein Zurück komme aber nicht in Betracht, sie haben sich ein Ziel gesetzt und das wollen sie auch erreichen.
Auf ihrer Route durch fremde Städte und Länder sind die jungen Leuten oft bedrohlichen Momenten ausgesetzt. Im Osten oder Süden Europas seien Flüchtlingsunterkünfte nur bedingt sichere Orte. „Zahlreiche Jugendliche sprechen über Gewalt und Übergriffe, die dort an der Tagesordnung waren.“
Binnen Stunden einen Vormund finden
Innerhalb von 24 oder am Wochenende 48 Stunden muss ein Vormund für den Jugendlichen gefunden sein. So will es das Gesetz. Zuständig ist das Amtsgericht. Die Aufgabe übernehmen Mitarbeiter des Jugendamtes, Ehrenamtliche oder auch die Angehörigen, die den Flüchtling aufnehmen.
Die Kosten für die Unterbringung übernimmt zunächst einmal die Stadt, erhält sie aber vom Landesjugendamt zurück.
Der überwiegende Anteil der Geflüchteten stellt nach Erfahrungen von Nina Brons und Julia Schnittker einen Asylantrag, um dauerhaft in Deutschland bleiben zu können.
Solche Erlebnisse rufen Traumata hervor, schon allein das Verlassen der Familie belaste die jungen Flüchtlinge ungemein, sagt Nina Brons. Um die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten, oftmals mit Hilfe von Psychologen, brauche es Zeit. Die komme aber meist erst, wenn die Jugendlichen hier Fuß gefasst und Abstand gewonnen haben.
Wohngruppen oder Verwandte nehmen Flüchtlinge auf
Die Stadt sorgt nach der Ankunft erst einmal dafür, dass die Jugendlichen in einer Wohngruppe einer sozialen Einrichtung unterkommen, entweder in Witten selbst oder in einer der umliegenden Städte. Da nun auch Nachbarkommunen mehr junge Leute aufnehmen, kann es mit einem Platz eng werden. Einige der Ankömmlinge finden hingegen eine Bleibe bei Verwandten, die bereits hier leben, und die sich auch um sie kümmern.
Bemerkenswert sei bei sehr vielen Flüchtlingen der Ehrgeiz, hier in Deutschland lernen und arbeiten zu wollen, sagt Julia Schnittker. Ein Beispiel: Ein halbes Jahr nach der Ankunft habe ein Jugendlicher keinen Dolmetscher mehr gebraucht, um sich mit ihr auf Deutsch zu unterhalten. Eine Schule zu besuchen, sei für die Jugendlichen selbstverständlich und ebenso möchten sie einen Beruf ergreifen. So weit Julia Schnittker und Nina Brons später noch Kontakt haben, hören sie, dass die jungen Menschen eine Stelle finden. „Sie wollen sich etwas aufbauen und auch etwas zurückgeben“, so Schnittker. Das sei ihnen ein sicheres Leben wert.