Witten. Es ist kein reiner Demenzchor, der sich einmal im Monat im St. Josefshaus trifft. Doch genau das zeichnet das Wittener Angebot aus.

Erwartungsvoll sitzen rund 30 Frauen und Männer im Innenhof des St. Josefshauses in Herbede unter dem riesigen Sonnenschirm, an dem bunte Lampions im Wind baumeln. Dann tritt Martin Martmöller heraus, geht zum Keyboard und fragt: „Wollen wir loslegen?“ Als die ersten Takte von „Das Wandern ist des Müllers Lust“ erklingen, trällern die Ersten gleich mit. Das Besondere an diesem Singkreis im Wittener Altenheim: Er richtet sich an Menschen mit und ohne Demenz.

Musiklehrer Martin Martmöller am Keyboard: Der Wittener singt mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des St. Josefshauses in Witten-Herbede bekannte Volkslieder.
Musiklehrer Martin Martmöller am Keyboard: Der Wittener singt mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des St. Josefshauses in Witten-Herbede bekannte Volkslieder. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

„Es bringt viel mehr, wenn alle gemeinsam singen, als wenn wir einen reinen Demenzchor anbieten würden“, sagt Stefanie Schneider vom Sozialen Dienst des Hauses. Denn beim Singen sind sie alle gleich. Dann merkt man vielen ihre Krankheit überhaupt nicht mehr an. Immerhin sei mehr als die Hälfte der heute Anwesenden dement. „Aber selbst jene, die kaum noch sprechen, können sich über die Lieder ausdrücken und meist den Refrain auswendig“, sagt die 43-Jährige. Es gebe sogar Bewohner, die würden kein anderes Angebot als den Singkreis besuchen.

Musiklehrer Martmöller leitet viele Chöre in Witten

Das freut Martin Martmöller, der hier seit kurzem im Einsatz ist, aber schon seit vielen Jahren einen Altenheimchor in Sprockhövel leitet. Der 59-Jährige hat zwar mal als Zivi im Seniorenzentrum gearbeitet, ist aber eigentlich Musiklehrer an der hiesigen Musikschule. Außerdem singt er jede Woche mit 280 Wittener Grundschulkindern und leitet 16 Chöre in der Ruhrstadt, Dortmund und Hagen. Darunter den Pop-Chor „Stairway“ und den Männergesangverein Deutsche Eiche Hammertal. Daher kennt er auch Dieter Hähner (87), der an diesem Morgen in der ersten Reihe sitzt und fleißig mitmacht. „Er war 70 Jahre im MGV“, weiß Martmöller.

Stefanie Schneider vom Sozialen Dienst betreut die Veranstaltung im St. Josefshaus.
Stefanie Schneider vom Sozialen Dienst betreut die Veranstaltung im St. Josefshaus. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald

Christel Löpke (88), Gretel Zielinski (88) und Rosemarie Vollmert (86) singen ebenfalls für ihr Leben gern. „Es steht eine Mühle im Schwarzwälder Tal“ erklingt. Die Damen sind konzentriert bei der Sache. Aber auch eine Bewohnerin, die im Erdgeschoss auf dem Balkon sitzt und nicht in der Lage wäre, direkt an der Runde teilzunehmen, hat sichtlich Spaß. „Das ist so schön“, hört man sie immer wieder sagen. Ihr Lächeln spricht Bände. Für Bewohnerinnen wie sie bietet das Josefshaus sonst eine musikalische Einzelbetreuung an. „Dann kommt jemand mit der Gitarre aufs Zimmer“, sagt Stefanie Schneider.

Wittener Musiker: Freude der Menschen steht im Vordergrund

Auch für Martin Martmöller ist diese Veranstaltung in Herbede einmal im Monat eine besondere. „Normalerweise guckt man als Musiker auf Qualität und schönen Klang“, sagt der Wittener. „Hier ist das egal und das ist wohltuend.“ Womit er jetzt natürlich nicht meint, dass die Seniorinnen und Senioren keine Töne treffen. Denn das tun sie durchaus. Sie kennen zudem viele Strophen auswendig. Martmöller: „Das haben sie alle in der Schule auswendig gelernt und daran erinnern sie sich.“ Das Liederbuch – Titel: „Singen hält jung“ – liegt oft nur locker im Schoß.

+++Folgen Sie jetzt auch dem Instagram-Account der WAZ Witten+++

Für Martin Martmöller, der sonst probt, bis jeder Ton hundertprozentig sitzt, steht hier die Freude der Menschen im Vordergrund. „Das ist es, was Musik eigentlich ausmachen sollte“, sagt der Profi mit der volltönenden Stimme, der auf einem uralten, einfachen Keyboard spielt. Findet der Singkreis drinnen im Haus statt, dann steht ihm ein richtiges Klavier zur Verfügung. Aber darauf kommt es ja gar nicht an.

Lesen Sie auch:

„Musik bewegt so viel“, stellt Stefanie Schneider immer wieder fest. „Auch noch, wenn’s richtig dunkel wird“, ergänzt Martmöller und meint den Gedächtnisverlust. Der Musiker singt nicht nur mit den Alten. Er erzählt auch kurze Anekdoten, macht Witzchen, stellt Fragen. „Wo waren Sie denn mal im Urlaub?“ Heute führt seine musikalische Reise quer durch Deutschland. Er selbst ist gerade aus Bayern zurückgekehrt.

+++Keine Nachrichten aus Witten mehr verpassen: Hier geht’s zu unserem kostenlosen Newsletter+++

Gemeinsam singen alle eine Dreiviertelstunde lang vom Rhein, von der Lüneburger Heide, von der Nordsee. Wer bis zum Schluss den Mund nicht geöffnet hat – denn auch das kommt vor –, der wiegt sich zumindest im Takt. Oder wippt mit dem Fuß. Musik bewegt. Und die Krankheit ist wie vergessen.