Witten. Weil Fachkräfte fehlen, bildet Pilkington in Witten diese selbst aus – während der Arbeitszeit, bei vollem Gehalt. Wie das Modell funktioniert.
Es ist ein Projekt, das in dieser Größenordnung beim Glashersteller Pilkington in Witten völlig neu ist. Seit dem 5. Juni werden hier 38 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Maschinen- und Anlagenführer ausgebildet. Normalerweise dauert die Ausbildung bei der IHK zwei Jahre, die Mitarbeitenden von Pilkington erlernen den Beruf hingegen in nur neun Monaten.
„Das geht, weil viele von ihnen schon Erfahrungen mit der Bedienung einer Anlage haben oder anlagennah eingesetzt sind, den theoretischen Hintergrund bisher nur nicht hatten“, erklärt Michael Weiß, Personalleiter am Standort Witten. Wie die Weiterbildung genau abläuft, hat Pilkington in den letzten Monaten gemeinsam mit der IHK, der Arbeitsagentur für Arbeit und dem Bildungsunternehmen bfw erarbeitet. „Wir haben in den vergangenen Monaten die Erfahrung gemacht, dass es auf dem Markt aktuell sehr schwer ist, ausgebildete Maschinen- und Anlagenführer zu finden. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, unsere eigenen Mitarbeiter zu solchen weiterzubilden“, so Weiß.
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Werksleiter Fabian Wirtz fasst das Modell zusammen: Die Mitarbeitenden werden neun Monate lang von Dozenten der bfw- Unternehmensgruppe in den Räumen von Pilkington am Standort Witten ausgebildet. Die Teilnehmenden müssen nicht zur Berufsschule fahren und werden auch die Abschlussprüfung im Februar direkt im Werk ablegen. „Uns war es wichtig, dass sich für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den Arbeitswegen nichts ändert“, so Fabian Wirtz.
Witten: Beschäftigte bekommen während der Weiterbildung das volle Gehalt
Das gilt auch für die Bezahlung und bereits genehmigte Urlaubstage. Alle bekommen, bezuschusst durch die Agentur für Arbeit, weiterhin ihr volles Grundgehalt und eine Pauschale für die ausgefallenen Schichtzuschläge – und das, obwohl sie bis Februar ausschließlich die Weiterbildung absolvieren. Wer in der Zeit Urlaub hat, arbeitet die verpassten Seminarinhalte im Anschluss nach. „Der Betriebsrat hat sich auch dazu bereit erklärt, in seinen Möglichkeiten zu unterstützen, wenn nachgelagerte Lernstoffvermittlung situativ notwendig sein sollte“, sagt Wirtz.
Nach den ersten zwei Ausbildungswochen ist der Eindruck der Teilnehmenden gut. „Viel Stoff, aber machbar“, sagt Anna Kopec. Die 38-Jährige arbeitet seit einigen Jahren als Produktionshelferin im Unternehmen. Davor war die gelernte Kinderpflegerin in einem Altenheim tätig. Von der Weiterbildung erhofft sie sich, in ihrem neuen Beruf weiter voranzukommen.
„Ich mache die Weiterbildung, weil ich danach mehr Lohn bekommen kann. Außerdem bin ich alleinerziehende Mutter und möchte damit auch ein Vorbild für meinen Sohn sein“, sagt sie. „Ich will ihm vorleben, dass man selbst dafür verantwortlich ist, sich weiterzubilden, um im Beruf voranzukommen.“ Dass sie nur eine von drei Frauen ist, die an der Maßnahme teilnehmen, ist für sie ein zusätzlicher Ansporn.
Pilkington nutzt Auftragsdelle zur Inhouse-Weiterbildung
Das gilt auch für ihre Kollegin Gundula Hackelbörger. Die 41-Jährige wurde im Betrieb schon angelernt – und war damit die erste Frau, die als Anlagenführerin in dem Wittener Betrieb arbeitete. „Man muss auch als Produktionshelferin konzentriert arbeiten, aber ich wollte trotzdem etwas Anspruchsvolleres machen und auch als Frau in eine Art Führungsposition kommen können“, sagt sie.
Das die beiden Frauen gemeinsam mit 36 weiteren Mitarbeitenden des Unternehmens nun neun Monate aus dem laufenden Betrieb rausgenommen werden können, ohne dabei auf Gehalt verzichten zu müssen, macht die aktuelle Auftragslage möglich. Pilkington produziert in Witten Autoscheiben für verschiedene PKW-Modelle. Weil aktuelle Serienmodelle derzeit zum Teil auslaufen und Neue erst in einigen Monaten starten, gibt es aktuell eine kleine Auftragsdelle, wie Michael Weiß erklärt.
Arbeiten in Witten
In Witten gibt es weitere Betriebe und Einrichtungen, die ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besondere Arbeitsmodelle anbieten. Sei es eine Inhouse-Weiterbildung oder der nachgeholte Schulabschluss neben dem Beruf. Eine Reihe dieser Modelle stellen wir Ihnen in unserem Themenschwerpunkt vor. Hier finden Sie alle bisher erschienenen Artikel der Reihe:
Teil 1: Vier-Tage-Woche im Handwerk – kann das funktionieren?
Teil 2: Schule während der Arbeitszeit – in Witten ist das möglich
Teil 3: Warum Menschen in Witten ihren Schulabschluss nachholen
Da die Auftragslage aber vorausschaubar ist und im kommenden Frühjahr, wenn die neuen Produkttypen anlaufen, wieder ausreichend Maschinen- und Anlagenführer gebraucht werden, sei nun der ideale Zeitpunkt für die Weiterbildung der 38 Mitarbeitenden, so der Personalchef. „Wir wollten unsere Mitarbeiter unbedingt halten und gleichzeitig entsprechend qualifizierte Mitarbeiter finden, deswegen ist die interne Weiterbildung nun die ideale Lösung für uns.“
Modell ist auch für die Organisatoren von bfw und Arbeitsagentur ein Novum
Das Modell überzeugt auch Cosgun Sahin. Bisher war er – ähnlich wie Anna Kopec – als Produktionshelfer angestellt. Eine abgeschlossene Ausbildung hat der 23-Jährige bislang allerdings nicht. Dementsprechend skeptisch war er, als sein Chef ihm von der Weiterbildung erzählte. Das hat sich inzwischen aber geändert. „Es geht hier lockerer zu als in der Schule“, sagt er. „Man hat immer einen Ansprechpartner und weiß durch den praktischen Bezug auch ganz genau, wozu man das Ganze lernt.“
Damit sich das Modell umsetzen lässt, war aber nicht nur der Einsatz von Fabian Wirtz und Michael Weiß nötig. Auch für die Arbeitsagentur Hagen, das bfw und die IHK ist eine Weiterbildungsmaßnahme in dieser Größenordnung neu, wie Christopher Nölle, Bildungsstättenleiter beim bfw, erklärt. Dieses Projekt in so kurzer Zeit zu realisieren, sei auch für ihn und seine Kollegen ein enormer Aufwand gewesen. „Normalerweise finden die Weiterbildungen ja in unseren Bildungsstätten vor Ort statt. Da ging es auch darum, sicherzustellen, dass die Weiterbildung hier im Betrieb die gleiche Qualität hat.“
Die Verantwortlichen sind allerdings davon überzeugt, dass es sich bei dem Projekt um ein Modell mit Zukunftsperspektive handelt, wie Ingo Joppe, Teamleiter bei der Arbeitsagentur Hagen betont: „Wir sind davon überzeugt, dass der Bedarf nach flexiblen Weiterbildungsmaßnahmen weiter steigen wird und wir dem mit solchen Modellen, wie hier bei Pilkington, gerecht werden.“
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