Witten. Stephan Ziemke ist neuer Chef der Geriatrie am Ev. Krankenhaus Witten. Im Interview spricht er über Altersmedizin und wichtige Kraftquellen.
Stephan Ziemke weiß, was es bedeuten kann, alt zu werden. Er selbst ist zwar erst 51. Aber die Patienten, die er seit April als neuer Chefarzt der Klinik für Geriatrie am Evangelischen Krankenhaus in Witten versorgt, sind mindestens 70 Jahre alt und haben oft mehrere schwere, meist chronische Erkrankungen. „Mein Ziel ist es, den Patienten wieder ein selbst bestimmtes Leben zu ermöglichen“, sagt der Dortmunder. Im Interview spricht er über das Leben und Sterben, therapeutische Spieleabende und andere Kraftquellen.
Herr Ziemke, wie waren die ersten Monate als Chef denn nun?
Stephan Ziemke: Ich habe eine hervorragend geführte Klinik übernommen, anfangs aber nur mit 50 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, weil viele im Urlaub oder krank waren. Viele Stellen sind nach wie vor unbesetzt, es herrscht überall Ärztemangel. Das ist für mein Team eine Riesenherausforderung. Denn wir möchten unsere Patienten ja bestmöglich versorgen. Wir haben aber einen so starken Zusammenhalt, dass wir das trotzdem schaffen.
Warum haben Sie sich für die Geriatrie, also die Altersmedizin, entschieden?
Geriatrie ist für mich nicht nur eine Fachrichtung, sondern eine Behandlungsphilosophie. Wir arbeiten ressourcenorientiert und ganzheitlich. Bei uns liegt ein Patient nicht nur 14 Tage im Bett. Wir bieten zusätzlich intensive Krankengymnastik, Physiotherapie und Logopädie. Der Patient soll im Idealfall die Klinik wieder so mobil wie möglich verlassen können.
Wann haben Sie gemerkt: Die Geriatrie ist das Richtige für mich?
Auslöser war eine Situation in meiner Assistenzarzt-zeit in der Intensivmedizin des Klinikums Dortmund. Ich sehe es noch ganz deutlich vor mir. Es war der Patient in Bett 11 direkt am Fenster, der beatmet worden war und nun von der Beatmung entwöhnt wurde. Mir ging dieser Fall besonders zu Herzen, weil dieser Mann vorher ein selbst bestimmtes Leben geführt hatte und nach dem Krankheitsverlauf mit vielen Komplikationen nun ein Pflegefall zu bleiben drohte. Dieses Schicksal wollte ich künftig älteren Patienten ersparen. Deswegen wollte ich in die Geriatrie wechseln, um diese Patienten so umfassend und kompetent wie möglich zu versorgen.
Wie alt sind Ihre Patienten?
Wir behandeln laut Gesetz in der Regel Menschen ab 70 Jahre. Alte Menschen bringen neben dem akuten Problem in der Regel eine ganze Reihe an Krankheiten mit. Wir gucken: Was hat der Patient? Was kann er? Wo will er hin? Vieles will der gar nicht mehr. Trotzdem werden rund 90 Prozent der gesamten Lebensgesundheitskosten in den letzten 100 Tagen eines Menschenlebens ausgegeben.
Welchen Einfluss haben die Angehörigen auf die Behandlung?
Da wird es oft schwierig. Auch Patientenverfügungen sind nicht immer eindeutig. Viele Angehörige fordern das Maximum an Intensivmedizin, ohne zu bedenken, welche Strapazen das für den Patienten mit sich bringt. Andere wollen, dass die Therapien sofort eingestellt werden. Mich interessiert vor allem der Wunsch des Patienten. Viele hochbetagte Patienten möchten keine gefährlichen Eingriffe mehr, wünschen sich aber eine Linderung ihrer Beschwerden.
Haben Sie als Geriater denn wenigstens mehr Zeit für Gespräche am Krankenbett?
Während ich bei einer Visite auf der Intensivstation oft nur zwei bis drei Minuten Zeit pro Patient hatte, nehme ich mir nun, wenn ich kann, viel Zeit für meine Patienten. Neulich habe ich eine Dreiviertelstunde mit einem schwer depressiven Mann gesprochen, der sich mir anvertraut hat, weil er sterben wollte. Ich stand unter Zeitdruck. Aber dieses Gespräch war mir extrem wichtig, weil ich auf diese Weise verstehen konnte, was wichtig für den Patienten ist und wie ich ihm am besten helfen kann.
In Würde sterben – wie geht das aus Ihrer Sicht?
Ohne Schmerz, ohne Angst und am besten im Beisein von lieben Menschen. Es gibt Patienten, die sterben in Frieden, sobald alle ihre Lieben um sie herum versammelt sind. Andere sterben genau in den wenigen Minuten, wenn sie alleine sind. Es gibt Situationen, die beschäftigen mich auch nach Dienstschluss. Zum Beispiel, wenn Patienten in verwahrlostem Zustand zu uns kommen und sich die Angehörigen nicht um sie kümmern wollen, weil sie denken, die Allgemeinheit, also das Gesundheitssystem, sei dafür zuständig. Das geht mir schon sehr nahe. Denn ich möchte, dass diese Patienten auch nach dem Klinikaufenthalt gut versorgt sind.
Wie kommen Sie damit klar?
Ich habe wie jeder Arzt und jede Ärztin gelernt, professionell damit umzugehen. Wichtig ist, dass man auch abschalten und sich entspannen kann. Ich habe eine wunderbare Familie: meine Frau und meine beiden Söhne. Regelmäßig treffe ich mich mit alten Schulkollegen zum Spieleabend. Meine Frau nennt es „therapeutische Männerrunde“. Außerdem begeistere ich mich für 3D-Druck und erstelle damit zu Hause eigene Modelle. Das Wichtigste im Leben ist Zufriedenheit. Das alles gibt mir die Kraft, auch in der Klinik meine Aufgaben zu erfüllen.
Bei Ihrer offiziellen Einführung haben Sie von Visionen gesprochen, die Sie als Chef gerne umsetzen möchten. Welche sind das?
Ich möchte den Patienten noch mehr Diagnostik und Therapien anbieten, etwa eine Basisdiagnostik, die zum Beispiel auch die Psyche und kognitive Fähigkeiten umfasst. Außerdem möchte ich die Zusammenarbeit mit den Hausärztinnen und Hausärzten ausbauen und damit die Versorgung der Patientinnen und Patienten nach dem Klinikaufenthaltweiter verbessern.
Nach einer anstrengenden Zeit steht jetzt Ihr Urlaub kurz bevor. Wo geht es hin?
Ich fliege mit meiner Frau nach Spanien. Es ist seit langem der erste Urlaub ohne Kinder. Ein bisschen im Meer baden und am Strand spazieren gehen. Alles ganz in Ruhe. Ich freue mich wahnsinnig darauf.