Witten. „Die russischen Soldaten kennen kein Mitleid“: Natalia, Yuliia und Anna konnten aus Butscha und Irpin nach Witten fliehen. Das haben sie erlebt.

Ihr einstiges Zuhause ist plötzlich weltweit bekannt: Butscha in der Ukraine. Von dort sind Yuliia und Anna mit ihren Kindern vor den Gräueltaten ihrer Angreifer nach Witten geflohen. Natalia schlug sich aus dem benachbarten Irpin nach Deutschland durch. Was die drei erlebt haben, ist erschütternd.

Flüchtling aus Witten: Russische Soldaten kennen kein Mitleid

„Russian Lessons“ ist ein bekannter Film in der Ukraine, in dem zwei Filmemacher den Krieg Russlands gegen Georgien dokumentiert haben. „Diesem Film verdanke ich mein Leben“, sagt Yuliia Korobanko. Denn er zeige, wie russische Soldaten ticken. „Hinterhältig, link. Sie kennen kein Mitleid.“

Der Eingang zum Mehrfamilienhaus, in dem Anna Fesenko und ihr Sohn in Butscha lebten. Ein Nachbar schickte vor Kurzem diese Bilder. Russische Soldaten hätten die Wohnungen geplündert.
Der Eingang zum Mehrfamilienhaus, in dem Anna Fesenko und ihr Sohn in Butscha lebten. Ein Nachbar schickte vor Kurzem diese Bilder. Russische Soldaten hätten die Wohnungen geplündert. © Fesenko

In der Nacht, als die ersten Bomben fielen, übernachtete die 43-Jährige mit ihrer 13-jährigen Tochter noch im Korridor ihrer Wohnung. Die Familie wohnte erst seit Kurzem in Butscha. Sie waren aus Donezk im Osten geflohen und gerade dabei, sich in der Kiewer Vorstadt ein neues Leben aufzubauen.

Nun zitterten die Fensterscheiben zitterte so sehr, dass sie Angst hatten, sie würden zerbersten. Am nächsten Morgen, es lag eine „schreckliche Stille“ über der Stadt, packten beide ihre Sachen und liefen zur Autobahn. Der Vater blieb. Per Anhalter schafften die Frauen es in Richtung Grenze.

Leichen auf dem Schulhof

Genau wie Anna Ferenko (38) und Natalia Cherrysch (35) lebt Yuliia mit ihrer Tochter nun in Witten. Die Frauen suchen unentwegt auf ihren Handys Nachrichten aus der Heimat. In den Chatgruppen kursieren Suchmeldungen von Vermissten. Viele aus der 31.000-Einwohner-Stadt sind geflohen, viele melden sich einfach nicht – man ahnt, warum.

Anna, die sehr gut Englisch spricht, zeigt Fotos von ihrer zertrümmerten Wohnanlage in Butscha und von der Schule, die ihr neunjähriger Sohn besucht hat. Auf dem Schulhof, neben dem Spielplatz, liegen Leichen. Der Schulweg des Jungen führte über die Straße, die jetzt weltberühmt ist, weil sie mit Leichen gepflastert ist.

Appartement ist vermint

Im Kellereingang zu Annas Haus liegen Leichen, notdürftig mit Teppichen bedeckt.
Im Kellereingang zu Annas Haus liegen Leichen, notdürftig mit Teppichen bedeckt. © Fesenko

Ihr Wohnblock liegt erhöht und sieht – nein, sah – schick aus. War er deswegen so begehrt bei den russischen Soldaten? Sie hätten die Türen aufgebrochen, die Wohnungen durchwühlt, Bargeld, Fernseher, Waschmaschinen, jegliche Technik, mitgenommen, alles was ihnen gefällt.

Zwei Wochen hätten die Soldaten darin gehaust, offenbar wie die Tiere. Auch Annas Appartement sieht wahrscheinlich so aus. Wie ihr die Nachbarn berichten, seien die Wohnungen vermint. Die Bewohner dürfen sie erst wieder betreten, wenn die ukrainische Armee sie freigegeben hat.

Anna würde gern in ihre Heimat zurückkehren. Sie lebt mit Mutter und Sohn in Herbede, wo der Neunjährige zur Schule geht. Ihm zuliebe wird sie bleiben. Zuhause sei es viel gefährlich für ein Kind.

Im Keller gesessen und Regenwasser getrunken

Vor der russischen Invasion hatten die Nachbarn ihre Autos ganz normal am Straßenrand geparkt.
Vor der russischen Invasion hatten die Nachbarn ihre Autos ganz normal am Straßenrand geparkt. © Fesenko

Natalia ist irgendwie in Deutschland gestrandet. Der Immobilienmaklerin merkt man die Schrecken der letzten Wochen noch an. Erst vor einem Jahr hatte sie sich eine Eigentumswohnung in Irpin gekauft, ebenfalls eine Vorstadt von Kiew. Auch dort ereigneten sich schlimme Gräueltaten, die 35-Jährige war Zeugin.

Auch interessant

Fünf Tage saß sie mit 46 anderen im Keller eines Mehrfamilienhauses. „Nur Frauen, mit vielen Kindern, das jüngste drei Monate alt.“ Am dritten Tag hatten sie kein Wasser und keine Nahrung mehr. „Wir haben einen Eimer vor das Fenster gestellt und das Regenwasser getrunken“, sagt Natalia. Schon da wollte sie fliehen. Aber niemand hatte ans Packen oder an Pässe gedacht, als sie sich vor den Bomben versteckten.

Vor den Augen verprügelt und vergewaltigt

Offiziell leben in Witten jetzt 550 Ukraine-Flüchtlinge

Die drei Frauen aus Butscha und Irpin sind über die Wittenerin Olga Tape gekommen. Sie sucht dringend eine Wohnung für Natalia, die zurzeit bei einer Familie im Kinderzimmer wohnt. Yuliia sucht eine Wohnung für ihre Mutter, die vor zwei Tagen und nach einer langen Flucht über Russland in Witten angekommen ist. „Sie möchte allein sein. Sie hält es im Moment psychisch nicht aus, mit so vielen Menschen zusammenzusein“, sagt Yuliia.

In den nächsten Tagen erwartet Olga Tape mehrere Familien aus dem umkämpften Cherson – sofern ihnen die Flucht gelingt. Die Familien haben kleine Kinder und brauchen ebenfalls eine Bleibe: Kontaktaufnahme unter 0178 2462671. Inzwischen sind 550 Ukraine-Flüchtlinge offiziell in Witten gemeldet. Sie benötigen auch Sachspenden wie Kleidung und Lebensmittel. Man kann sie Am Schumacher 10 in Herbede abgeben.

Vor ihren Augen konnte Natalia den Überfall der russischen Soldaten auf das gegenüberliegende Haus beobachten. Die Bewohner, erzählt sie, wurden verprügelt, lebendig aus dem Fenster geworfen oder erschossen. Sie hörte die Schreie der vergewaltigten Frauen. 140 Menschen sollen in dem Wohnblock gestorben sein.

Am 14. März gelang Natalia und vier anderen aus ihrem Keller die Flucht. Ihr Arbeitgeber hatte ihr sein vollgetanktes Auto zur Verfügung gestellt. Die Brücke von Irpin war gerade gesprengt worden, „wir sind zwölf Stunden über Waldwege gefahren“. Immer wieder sahen sie Frauen mit kleinen Kindern, die auf gut Glück zu Fuß durch den Wald unterwegs waren. Im Nachhinein erfuhr sie: Am Tag nach ihrer Flucht fiel eine Bombe auf ihr Haus. Alle, die mit ihr im Keller saßen, sind tot.