Witten. Sehr spannend ist die neue Ausstellung im Märkischen Museum Witten – und das nicht nur für Kunst-Fans. Thema und Technik sind hochaktuell.
Die neue Ausstellung im Märkischen Museum, die am Freitag (1.10.) eröffnet wird, ist anders als sonst – ganz anders. Das merkt man auf den ersten Blick, wenn man die großen Farbtafeln und Info-Schilder zwischen den Gemälden sieht, aber auch auf den zweiten, wenn sich das eigene Handy plötzlich mit den Bildern verbindet. Aber man hört es auch, wenn die Organisatoren über „Anders normal! Revision einer Sehschwäche“ sprechen. Denn dann werden sie ungewöhnlich emotional.
Thema der Ausstellung ist das Fehlen der Frauen in der Kunst. Claudia Rinke, die die Schau zusammengestellt hat, liegt das Thema schon lange am Herzen. Sie hat den Bestand gesichtet, eine Statistik gemacht: „Nur zehn Prozent unserer Werke sind von Künstlerinnen geschaffen worden“, sagt sie. Wenn sie gezeigt wurden, dann oft versteckt. „Unterm Dach, in der Frauen-Kemenate“, hat Rinke herausgefunden. Das wollte sie ändern.
Wittener Kuratorin hat anderthalb Jahre an der Ausstellung gearbeitet
Anderthalb Jahre hat sie nun daran gesessen, die Werke der Künstlerinnen im Märkischen Museum sichtbar zu machen. „Da haben echte Schätze jahrzehntelang ungesehen im Depot gelegen“, beklagt sie. Die Kuratorin hat sie hervorgeholt, manche restaurieren lassen und jetzt aufgehängt.
Aber bei „Anders normal“ geht es um mehr als darum, den Bestand zu zeigen, betont Museumsleiter Christoph Kohl, der „wirklich wahnsinnig stolz“ auf die neue Ausstellung ist. Es gehe darum, auf eine Ungerechtigkeit hinzuweisen: Wie in fast allen Museen weltweit seien Künstlerinnen auch in Witten stets unterrepräsentiert gewesen.
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Ausstellungs-Praxis des Märkischen Museums soll hinterfragt werden
„Mit der Ausstellung werfen wir einen kritischen Blick auf die Geschichte des Märkischen Museums und hinterfragen unsere eigene Ausstellungs-Praxis“, ergänzt Kulturforums-Chefin Jasmin Vogel. Ein Museum dürfe eben nicht nur schöne Kunst zeigen, sondern müsse auch ein Ort sein, wo gesellschaftliche Fragestellungen sichtbar werden. Das sei Claudia Rinke und ihren Kollegen außerordentlich gut gelungen, schwärmt Vogel: „Diese Ausstellung hat so viel Kraft – da gehst du verändert raus.“
Diese Kraft, von der Vogel spricht, speist sich aus verschiedenen Quellen. Da sind einmal die rund 100 Werke von etwa 50 Künstlerinnen, geschaffen zwischen 1911 und heute. Gemälde von Paula Modersohn-Becker oder Gabriele Münter, Plastiken von Gerlinde Beck und Graphiken von Käthe Kollwitz. Da sind aber auch die beeindruckenden Arbeiten der Kölner Multimedia-Künstlerin Johanna Reich.
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Vogel: Scheinbare Gleichberechtigung ist gefährlich
In ihrem Projekt zeigt Johanna Reich bedeutende internationale Künstlerinnen, die von der Bildfläche verschwunden sind – und das buchstäblich: Sie macht Polaroid-Aufnahmen von Porträts der Frauen und noch während die Bilder sich entwickeln, scannt sie sie ein und vergrößert sie stark. Das Ergebnis sind vage Bilder, schemenhaft und doch erkennbar, wie ein verblasstes Erinnerungsfoto. „Johanna Reich macht die Unschärfe, in der wir Frauen uns bewegen, sichtbar“, erklärt Vogel. „Wir glauben, wir haben Gleichberechtigung und denken, wir haben die Wahl. Dieser Schwebezustand ist gefährlich.“
Dass es mit der Gleichberechtigung nicht weit her ist, das zeigen die großen Infotafeln, die in den Ausstellungsräumen stehen. Was Künstlerinnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen verdienen, wie viele Museumsdirektorinnen es gibt, aber auch, wie wenig Frauen im Bundestag sitzen: All das erfahren die Besucherinnen und Besucher.
Der Eintritt ist frei
Die Ausstellung „Anders normal! Revision einer Sehschwäche“ wird am Freitag (1.10.) um 19 Uhr im Märkischen Museum eröffnet. Die Schau ist dann bis zum 20. Februar 2022 zu sehen, mi-so 12-18 Uhr. Der Eintritt im Märkischen Museum ist neuerdings frei.
In der Ausstellung gibt es einen Mitmachraum, eine kleine Bibliothek zum Thema und eine Umfrage. Das umfangreiche Veranstaltungsprogramm zur Ausstellung steht auf maerkisches-museum-witten.de.
Schirmherrin der Ausstellung ist Kultusministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. Das Land NRW hat die Schau mit 50.000 Euro gefördert. Weiterer Sponsor ist u.a. die Sparda-Stiftung.
Überhaupt gibt es viel zu erfahren. Die Designer von „Don’t touch“ aus Dortmund, die schon den Saalbau-Vorplatz gestaltet haben, wurden engagiert, um die Ausstellung in den Museumsräumen optimal zu präsentieren. Sie haben nicht nur ein sehr eindrückliches Farbkonzept entworfen, das mit großen Leer-Tafeln auf die Lücken in der Kunstdarstellung, den Gender Gap, hinweist, sondern auch digitale Informationen zu den Werken zusammengestellt. Die können direkt am Bild per App über Handy abgerufen werden, außerdem werden Verlinkungen zu Websites angeboten. Wer es lieber herkömmlich mag: Flyer, Führungen, Katalog, Vorträge und Workshops gibt es übrigens auch.
Thema, Technik, freier Eintritt – Jasmin Vogel ist überzeugt: „Es ist hier früher viel verschlafen worden.“ Aber jetzt habe das Team das Museum von der Steinzeit ins Heute geholt.
Mehr Bilder von der Ausstellung auf waz.de/witten