Witten. Der Wittener Jürgen Löchter kann auf ein reiches Leben und eine weltweite Karriere als Akkordeonist zurückblicken. Corona hat ihn ausgebremst.
Als er sechs Jahre alt war, hatte er tausende Schutzengel. Damals herrschte Krieg. Jürgen Löchter überlebte 1945 als Kind einen Bombenangriff auf seine Heimatstadt Witten inmitten eines Trümmerhaufens. Aus dem Jungen wurde ein leidenschaftlicher Professor, der sich mit seiner Liebe zum Akkordeon weltweit einen Namen gemacht hat – nicht nur als Akkordeonist, sondern auch als Komponist, als Begründer von Avantgarde-Ensembles und als Musiker, der auf international bekannten Bühnen spielte. Nicht seine 81 Lebensjahre haben Jürgen Löchter jetzt ausgebremst, sondern die Corona-Pandemie.
Stillstand und verordnete Ruhe sind seine Sache nicht. Das merkt jeder, der dem Rüdinghauser zum ersten Mal begegnet. Löchter ist ein feinsinniger, äußerst umtriebiger Mann, dem es auch zu verdanken ist, dass das Instrument Akkordeon in die Lehrpläne der deutschen Musikhochschulen aufgenommen wurde. Eine stolze Leistung. „Schließlich verbinden die meisten das Akkordeon mit ,umtata’ und Volksmusik“, wie er sagt.
„Jürgen, Jürgen, wir leben, wir leben“
Die Geschichte, wie Löchter zu seinem ersten Instrument kam, ist verbunden mit einem schrecklichen Erlebnis – der Nacht des 19. März 1945. 325 britische Bomber flogen damals einen Großangriff gegen Witten, dessen Innenstadt danach zu 80 Prozent zerstört war. Eine Nacht des Grauens, die Jürgen Löchter, sechs Jahre alt, in einem Bunker hinter einem Mietshaus in der Röhrchenstraße erlebte, in dem er mit seinen Eltern lebte. „Den Bunker hatten die Männer des Hauses selbst gebaut“, erinnert er sich. Da beim Luftangriff eine Hauswand des Wohnhauses zerstört wurde, begruben die Trümmer den Bunker unter sich, in dem der Junge als einziges Kind unter Erwachsenen saß, die um ihr Leben fürchteten.
„Stunden später wurden wir freigeschaufelt“, erzählt Jürgen Löchter. Eine alte Dame, die mit ihm im Bunker saß, sagte nach der Befreiung aus den Trümmern: „Jürgen, Jürgen, wir leben, wir leben.“ Sie schenkte ihm ein Spielzeug-Akkordeon. „Die alte Dame war die Frau von Ernst Hoffmann, der auf der Ardeystraße ein Fahrradgeschäft betrieb und auch Spielzeug verkaufte.“
Der erste Kontakt Jürgen Löchters mit einem Instrument. Sein Vater war Schlosser, die Mutter Hausfrau. „Musik spielte bei uns zuhause keine entscheidende Rolle.“ Später erbte er mit acht Jahren ein richtiges Akkordeon, das einem Onkel gehörte, der im Zweiten Weltkrieg bei Stalingrad gefallen war.
Als Zwölfjähriger trat er in Gaststätten in Witten als Alleinunterhalter auf
Das Akkordeonspiel brachte sich der spätere Professor als Kind selbst bei. „Ich habe intensiv Radio gehört, konnte dann die damals gängigen Schlager, Willi-Ostermann-Lieder und Rheinlieder spielen.“ Als Zwölfjähriger trat Jürgen Löchter damit in Wittener Gaststätten und Kneipen als Alleinunterhalter auf. Mit seinem Akkordeon spielt er dort bis in die frühen Morgenstunden. „Die Wirte haben mich danach zum Essen eingeladen.“ Löchters Eltern waren mit den Auftritten ihres Sohnes einverstanden. Der spielte dann „mit 13, 14 Jahren“ gegen Geld, begleitete musikalisch Busfahrten ins Sauerland und Zugreisen bis zur Aar.
Nach einem Auftritt in Frankfurt, bei dem Löchter als 14-Jähriger seine Zuhörer begeisterte, schenkte ihm der große Musikclown Grock (Adrien Wettach) sein Instrument Concertina, das Jürgen Löchter immer noch in Ehren hält. Mit 19 Jahren ging der Wittener zum Studium nach Trossingen in Baden-Württemberg. Dort gab es damals die einzige Musikhochschule in Europa, an der das Akkordeon als eigenständiges Lehrfach unterrichtet wurde – nicht zuletzt aufgrund des dort beheimateten Sponsors und damals weltweit größten Instrumentenherstellers Hohner.
Die Firma Hohner baute Jürgen Löchter ein Einzeltonakkordeon
Löchter studierte und hielt sich finanziell mit Tanzmusik und einem Jazz-Trio über Wasser. In nur zwei Jahren machte er sein Examen als staatlich geprüfter Musiklehrer, dann die staatliche Solistenprüfung. Bei der Firma Hohner ließ sich der junge Akkordeonist „sein“ Instrument bauen – ein sogenanntes dreimanualiges Einzeltonakkordeon. „Hiermit kann man klassische Musik spielen, auch jede Fuge von Johann Sebastian Bach in der richtigen Tonhöhe.“
Dass Jürgen Löchter, der von 1983 bis 1999 Direktor der Städtischen Musikschule Witten war, mit seinem Akkordeon einmal weltweit bekannt werden sollte, konnte er damals nicht ahnen. Der Wittener konzertierte in fast allen europäischen Ländern. Er stand mit dem Jahrhundertmusiker Leonard Bernstein in New York auf der Bühne. In Europa arbeitete Löchter jahrelang mit dem Argentinier Mauricio Kagel zusammen – „der bekannteste Komponist szenischer Musik“, wie der 81-Jährige sagt. Der Akkordeon-Virtuose Jürgen Löchter trat auch in Asien und Afrika auf.
Polnische Regierung ehrte Wittener mit der Frédéric-Chopin-Medaille
Uraufführung ins nächste Jahr verlegt
Eigentlich sollte in diesem Jahr in Wuppertal die Löchter-Komposition „...About F.E.“ uraufgeführt werden. Jürgen Löchter: „Das wurde aufgrund von Corona ins nächste Jahr verschoben.“ Der Wittener ist Gewinner und Preisträger nationaler und international renommierter Solistenwettbewerbe. 1965 hatte er auf Malta den ersten Platz bei den internationalen Akkordeon-Weltfestspielen belegt.
Von 1963 bis 2019 war Jürgen Löchter Jury-Vorsitzender im In- und Ausland bei Solo-, Kammermusik- und Orchesterwettbewerben. 1979 gründete er das Kammerorchester Witten. 1987 wurde der Rüdinghauser mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 1991 folgte Löchter dem Ruf als Professor an die Kölner Hochschule für Musik, Abteilung Wuppertal.
Zwischen 1996 und 2002 unternahm der Wittener gemeinsam mit Konzertsänger Günter Lesche im Auftrag des deutschen Innenministeriums neun Reisen nach Russland. „Als Botschafter der deutschen Kultur.“ Jürgen Löchter war hierbei auch einmal 14 Tage zu Gast in der Datscha von Russlands Ex-Präsident Boris Jelzin. „Es war ein schlichtes Haus, das von Soldaten bewacht wurde.“ Persönlich kennengelernt hat der Wittener Jelzin nicht.
2007 wurde Jürgen Löchter von der polnischen Regierung für sein Lebenswerk mit der Frédéric-Chopin-Medaille geehrt – als erster und bisher einziger Akkordeonist weltweit. Was dem Vater von zwei Töchtern und dreifachen Großvater sehr wichtig ist: „Ich kenne meine Frau seit 1957. Ohne ihr Verständnis wäre mein beruflicher Werdegang niemals möglich gewesen. Ich habe selbst im Urlaub stundenlang Akkordeon gespielt.“
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