Velbert/Berlin. Die Angehörigen konnten es nicht glauben: Der Medizinische Dienst der Krankenkasse beschied, dass für die Pflege der schwer krebskranken Frau eine Stunde ausreiche. Sie legten Widerspruch ein. 100.000 solcher Fälle gibt es pro Jahr, etwa die Hälfte der Widersprüche hat Erfolg.

Die Angehörigen der schwerkranken Dame waren über den Bescheid der Krankenkasse entsetzt. Eine Stunde Pflegeaufwand täglich reiche aus, heißt es im Gutachten der Techniker Krankenkasse und des Medizinischen Dienstes (MDK) Nordrhein. Die Patientin erhielt deshalb die Pflegestufe 1 bewilligt. Freilich war sie bereits so hilfsbedürftig und hinfällig, dass sie drei Wochen später an den Folgen einer Krebserkrankung starb.

Solche Einstufungen in der Pflegeversicherung sorgen für Konflikte, wenn die Patienten und Angehörigen sie am wenigstens gebrauchen können. Geht es ihnen doch um die bestmögliche Versorgung und die würdige Gestaltung der letzten Zeit des Lebens.

Knapp 1,5 Millionen Pflegegutachten verfassen die Medizinischen Dienste der gesetzlichen Kassen jährlich bundesweit. Gegen nahezu 100.000 wurden 2011 Widersprüche eingereicht. „Etwa die Hälfte“ habe Erfolg, weiß Heike Nordmann von der Verbraucherzentrale Düsseldorf. Der vorliegende Fall der Patientin aus Velbert wirft auf den ersten Blick Fragen auf. Im Krankenhaus konnten die Ärzte für Monika Schmitt* nichts mehr tun. Die 62-Jährige litt an Krebs im Endstadium. Wegen der Schädigung der Wirbelsäule konnte sie ihre Beine kaum noch bewegen und erhielt Morphium gegen die Schmerzen. Zu Hause pflegten sie vor allem ihr Mann und ihr Sohn mit Unterstützung eines Pflegedienstes.

1,5 Millionen Pflegegutachten

Die Gutachterin des Medizinischen Dienstes musste nun überprüfen, welche Stufe der Pflegeversicherung Frau Schmitt erhalten sollte. Zur Auswahl stehen drei Kategorien. Auf Stufe 3 sind der attestierte Pflegeaufwand und damit auch die finanzielle Übernahme der Kosten durch die Krankenkasse am höchsten.

Wie aus dem Gutachten des MDK hervorgeht, das der Redaktion vorliegt, litt die Patientin an einer „inkompletten Querschnittslähmung“. „Selbstständiges Gehen und Stehen ist nicht möglich“, heißt es weiter, „seit Beginn der Erkrankung hat sie 30 Kilogramm abgenommen“. Als Frau Schmitt trotzdem in die niedrige Pflegestufe 1 eingestuft wurde, legten die Angehörigen Widerspruch bei der Krankenkasse ein.

Sohn Peter Schmitt schildert die damalige Lage seiner Mutter so: Sie habe sich beispielsweise nicht mehr selbstständig waschen und kaum noch allein essen können. Den Pflegeaufwand der Familie beziffert er mit „12 bis 16 Stunden täglich“. Auch die hygienische Grundpflege habe definitiv mehr als 60 Minuten erfordert. Warum Medizinischer Dienst und Krankenkasse demgegenüber nur eine Stunde täglich für die körperliche Grundpflege ansetzten, kann Schmitt nur so erklären: „Unser Eindruck war, dass die Einstufung mit Absicht niedrig gewählt wurde, um Geld zu sparen.“

„Die Schwere einer Erkrankung ist für die Pflegestufe nicht maßgebend“

„Ohne Zweifel war die Patientin zum Zeitpunkt der Begutachtung eine schwerkranke Frau“, antwortete Barbara Marnach, die Sprecherin des MDK Nordrhein, auf die Anfrage der Redaktion. „Für die Vergabe einer Pflegestufe“ sei aber „nicht die Schwere einer Erkrankung oder Behinderung maßgebend“, so Marnach. Der rechnerische Zeitaufwand professioneller Pflegekräft bemesse sich stattdessen an Durchschnittswerten. Toilettengang, Waschen, Kämmen und andere Dienstleistungen werden dabei beispielsweise jeweils mit wenigen Minuten angesetzt.

Solche Widersprüche zwischen Pflegegutachten und den Einschätzungen von Angehörigen sind keine Seltenheit. Als mögliche Gründe kommen auch in Betracht: Die Familienmitglieder leiden mit den Patienten mit und kümmern sich viel mehr, als es professionelle Pflegepersonen tun könnten. Auch mag sich der Gesundheitszustand der Patienten rapide verschlechtern, sodass die Beurteilung im Gutachten nach kurzer Zeit überholt ist.

Wie kann man sich in solchen Situationen verhalten? Zweimal können die Angehörigen bei der Krankenkasse Widerspruch gegen das Pflegegutachten einreichen. Ist der Konflikt dann nicht beigelegt, muss man beim Sozialgericht klagen. Im vorliegenden Fall verzichtete die Familie auf diesen Weg, denn Monika Schmitt war inzwischen verstorben. Den bereits eingelegten Widerspruch verfolgte man deshalb nicht weiter.
(*Name von der Redaktion geändert)