Velbert. Samer Mouhammad und Sina Khudida sind 2015 nach Deutschland geflohen. Hier erzählen sie von ihrer Odyssee und den letzten fünf Jahren.

Aus dem Jarmuk-Flüchtlingslager in der syrischen Hauptstadt Damaskus bis nach Dresden sind es 3800 Kilometer; eine gewaltige Masse Land und eine kleine, aber unberechenbare Masse Meerwasser. Umgerechnet sind 3800 Kilometer fünfeinhalb Millionen Schritte. Samer Mouhammad hat die Strecke im Sommer 2015 absolviert – fast komplett zu Fuß. Fünf Jahre später ist er in Velbert und berichtet von seiner Flucht.

Der 32-Jährige sitzt an einem sonnigen Augusttag mit einer schwarzen Baskenmütze auf dem Kopf auf der Terrasse von Gero und Christine Sinha von der Integrationshilfe Langenberg. „Ich habe zwar in Syrien gelebt, aber eigentlich bin ich Palästinenser“, sagt Mouhammad. „Deshalb habe ich auch keinen syrischen Pass, sondern nur einen, in dem steht: ‚ungeklärte Herkunft’.“

Familie lebt noch in Syrien

Sein ganzes Leben lang, sagt der junge Mann, sei er Flüchtling gewesen. In diesem Einzelschicksal wird Weltpolitik persönlich: Weil seit dem UN-Teilungsplan für Palästina von 1947 und der 1948 folgenden israelischen Staatsgründung viele Palästinenser in die Nachbarstaaten vertrieben wurden oder geflohen sind, gibt es sowohl im Libanon als auch in Jordanien und Syrien palästinensische Flüchtlingslager, die sich im Laufe der Zeit zu Städten mit eigener Infrastruktur entwickelt haben. In einem dieser Lager lebte Mouhammad bis 2015, seine Familie wohnt noch in Damaskus.

Über die Balkan-Staaten – oft zu Fuß – kamen im Jahr 2015 Flüchtlingsströme aus Syrien.
Über die Balkan-Staaten – oft zu Fuß – kamen im Jahr 2015 Flüchtlingsströme aus Syrien. © dpa | Davor Stojnek

In Langenberg, in der im Sommer 2015 rasch eingerichteten Notunterkunft in der Turnhalle des Gymnasiums, kommt er zum ersten Mal mit Gero Sinha in Kontakt – nach Monaten auf der Flucht. „Alle standen draußen vor der Halle in der Sonne“, erzählt Mouhammad. Sinha, der ihm an diesem Augusttag auf seiner Terrasse gegenübersitzt, fällt die Szene wieder ein. „Richtig“, ruft er, „wir haben uns auf Englisch unterhalten“.

Asylantrag nach drei Jahren angenommen

Kurze Zeit später gründet Sinha die IHLA, die Integrationshilfe Langenberg. Ende 2016 absolviert Mouhammad ein Praktikum in der IT-Abteilung einer Velberter Firma – er wähnt sich am Ziel, weil er in Syrien IT-Technik studiert hatte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aber macht ihm einen Strich durch die Rechnung: Bis sein Asylantrag angenommen wird, vergehen beinahe drei Jahre.

Seit einiger Zeit bewirbt sich Mouhammad nun auf verschiedene Stellen als Web-Entwickler, nebenbei hilft er der Integrationshilfe bei Übersetzungsarbeiten. „Meine Familie ist die IHLA“, sagt er und lächelt. „Das freut uns sehr, Samer“, sagt Christine Sinha.

Zu Fuß zunächst nach Serbien

Ein leichter Sommerwind kommt auf und zieht sanft über die Terrasse. Neben Samer Mouhammad sitzt Sina Khudida, eine junge Frau, die die Gesprächspartner mit ihren durchdringenden dunklen Augen anschaut. Die heute 20-Jährige ist 2015 aus dem nordirakischen Shingal geflohen. „Wir waren zuerst in der Türkei“, erzählt Khudida über ihre Flucht. Dort aber habe sie nicht zur Schule gehen dürfen.

Nach einem Jahr ging es mit ihrer Familie – wie bei Mouhammad ebenfalls zu Fuß – nach Serbien, von da aus mit dem Auto nach Siegen. Nach weiteren sechs Monaten in Langenfeld wohnt die Familie seit 2017 in Essen-Rüttenscheid. „Während ich auf meinen Deutschkurs gewartet habe, habe ich alleine jeden Tag sechs Stunden die Sprache gelernt, vier Monate lang“, erzählt Khudida.

Abiturschnitt von 1,8

Das Jarmuk-Lager und der Ort Shingal

Laut dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge ist das Jarmuk-Lager (englisch: Yarmouk), aus dem Samer Mouhammad stammt, eines von drei palästinensischen Flüchtlingslagern in Syrien. Das Camp besteht seit 1957, wurde während des Syrienkriegs aber beinahe komplett zerstört.

Shingal, der Ort aus dem Sina Khudida stammt, liegt im Nordirak und damit de facto in der Autonomen Region Kurdistan. Die rechtliche Situation der Region ist umstritten, weil sowohl die kurdische Regierung als auch die irakische Zentralregierung sie für sich beanspruchen. Gesprochen wird dort ein kurdischer Dialekt, Khudida beherrscht aber auch Arabisch.

Der Aufwand macht sich bezahlt: Dieses Jahr hat sie Abitur gemacht. Als sie gebeten wird, von ihrem Notenschnitt zu berichten, ist ihrem Gesicht anzusehen, dass ihr das etwas unangenehm ist. „1,8“, sagt sie leise und lächelt. Im nächsten Jahr will die junge Frau anfangen, Kognitionswissenschaften zu studieren.

Im Moment arbeitet Khudida für die Stadt Essen und befragt dort andere Geflüchtete. Außerdem spielt sie in der IHLA-Combo Saz, eine Art Laute mit langem Hals, sowie Geige und Mandoline. Zusätzlich singt sie. Mittlerweile ist zwischen Familie Sinha und Khudidas Familie eine Bekanntschaft erwachsen. „Samstag sind wir bei Sinas Familie zum Essen eingeladen“, erzählt Gero Sinha – und wie er das so sagt, werden die entmenschlichten Diskussionen um Flüchtlingskontingente und Aufnahmeschlüssel ganz klein. Integration ist auf der sonnengefluteten Terrasse von Familie Sinha ein sehr persönliches Thema.

„Hier können wir ruhiger und sicherer leben“

Es waren anstrengende Jahre für Mouhammad und Khudida und beide wissen, dass Deutschland bei weitem kein perfektes Land ist. „Aber die Menschen hier respektieren die Gesetze und die anderen Menschen. Wir können hier ruhiger und sicherer leben“, sagt Mouhammad, steht auf und geht zur Kaffeemaschine ins Haus. Es sind nur ein paar Schritte. Fünfeinhalb Millionen hat er schon längst hinter sich.