Oberhausen. . Viele Oberhausener Lehrer hatten sich 2010 für das Turbo-Abi ausgesprochen. Inzwischen haben etliche ihre Meinung geändert und fordern eine Rückkehr zu G9. Schulleiter Michael von Tettau erklärt im Interview, warum die Umstellung auf G8 ein Fehler war.
Als 2010 die Entscheidung zwischen acht oder neun Jahren Gymnasium anstand, war das Meinungsbild unter Obenhausens Lehrern noch anders. Viele setzten sich damals für das Abi nach acht Jahren ein. Und nun? Neuntklässler sind längst nicht immer „oberstufentauglich“, meint Michael von Tettau, der Leiter des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums. „Die Kinder sind voll in der Entwicklung.“
Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln, heißt es so schön im Ruhrgebiet. NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann hat zum Runden Tisch eingeladen, um das Turbo-Abitur zu diskutieren. Was halten Sie davon?
Michael von Tettau: Nicht die aktuelle rot-grüne Landesregierung hat das Dilemma zu verantworten. Den kapitalen Fehler hat die Rüttgers-Regierung gemacht, als sie für das G 8-Abitur die Sekundarstufe I um ein Jahr verkürzt hat. Die Schüler sollen am Ende der neunten Klasse oberstufentauglich sein.
Warum ist das so schwierig?
Von Tettau: Die Kinder sind voll in der Entwicklung, Stichwort Pubertät. Und genau in der Zeit wird der Druck erhöht. Sie bekommen in der Klasse sechs ein weitere Fremdsprache dazu, nicht erst in Klasse sieben. Sie müssen sich in Klasse sieben schon mit der Französischen Revolution beschäftigen und mit dem Thema Imperialismus.
Welchen Nachteil sehen Sie noch im G 8-System?
Von Tettau: Beim G 9-Abitur hatte, wer die Sekundarstufe I absolviert hatte, also nach Klasse zehn, die mittlere Reife. Jetzt muss der Schüler dafür ein Jahr die Oberstufe besuchen, und in der gibt es keine Klassen mehr, sondern nur Kurse. Da muss man bei einigen Schülern unheimlich aufpassen, dass die einem nicht durch die Finger gehen. Wir haben deswegen das „Bertha-Modell“ eingeführt. Im ersten G 8-Oberstufen-Jahr, also in Jahrgangsstufe zehn, bleiben bei uns die Schüler in den Fächern Mathe, Deutsch und Englisch im Klassenverband.
2010 hatte die Landesregierung es den Gymnasien im Rahmen eines Schulversuchs einmalig freigestellt, zum Abitur nach 13 Jahren zurückzukehren. Die Oberhausener Gymnasien entschieden sich dagegen. Wie sieht heute die Stimmung im Lehrerkollegium aus?
Von Tettau: Wir haben kürzlich in der Lehrerkonferenz abgestimmt: Zwei Drittel des Kollegiums haben sich dafür ausgesprochen, wieder zu G 9 zurückzukehren. Das war anfangs anders, da hieß es: Jetzt lasst uns doch mit G 8 arbeiten, nun haben wir es halt. Aber jetzt haben wir den zweiten Jahrgang durchgezogen, und ich finde es bemerkenswert, wenn sich Kollegen nach diesen Erfahrungen anders äußern.
Wie begründen die Lehrer ihr Votum denn?
Von Tettau: Als Hauptargument kommt: Wir haben zu viele Probleme, die Inhalte durchzukriegen. Denn die Lehrpläne sind ja nicht, wie erhofft, angepasst worden. Es gibt kaum Gelegenheit, das Gelernte zu verinnerlichen. Vieles kann nur oberflächlich abgehandelt werden. Durch die Schulzeitverkürzung landen die Schüler heute in einem Alter in der Oberstufe, in dem sie für bestimmte Inhalte noch nicht reif sind. Zu manchen Themen in Deutsch oder Geschichte gehört ja auch etwas Lebenserfahrung dazu.
Das klingt alles sehr gehetzt und nach Zeitmangel . . .
Von Tettau: Das ist ketzerisch von mir, das zu sagen: Aber wenn Ministerin Löhrmann meint, man löst das Problem damit, dass man die Hausaufgaben streicht, dann ist das populistisch. Schule ist mehr als nur Ausbildung – und Bildung braucht Zeit.
Was müsste sich ändern?
Von Tettau: Der Hauptstress liegt in der Mittelstufe. Ich bin dafür, die Sekundarstufe I um ein Jahr zu verlängern und dafür die Oberstufe nur zwei Jahre laufen zu lassen. Und wenn das so nicht kommt, dann sollte das G 9-Abitur wieder eingeführt werden. Ich glaube auch nicht an die Möglichkeit der Entschlackung der Curricula: Das sind ja alles wichtige Themen, was soll man rausschmeißen? Ich könnte mir vorstellen, dass der Druck auf NRW wächst, wenn mehr andere Bundesländer zum Abi nach 13 Jahren zurückkehren. Auch der Druck der Wähler wird zunehmen.
Aber 2013, beim Doppeljahrgang, hat sich doch gezeigt, dass die G 8- und G 9-Abiturienten gleich gut abgeschnitten haben . . .
Von Tettau: Da müsste man sich aber nicht nur einen Jahrgang anschauen, sondern über längere Zeit beobachten, ob das Notenbild so bleibt. Außerdem muss man schauen: Wie viele Schüler fangen in Klasse fünf an und wie viele halten es bis zur Jahrgangsstufe zwölf durch? Ich würde sagen, jeder vierte, fünfte ist in der Zwölf nicht angekommen. Darüber wird nicht geredet.