Oberhausen. . Die Hexe Lilli oder das Pelz-Wesen Yoko sind bei Millionen Kindern in der ganzen Welt beliebt. Ihr Erfinder schreibt als Knister. Mit bürgerlichem Namen heißt er Ludger Jochmann – und sein Elternhaus steht in Oberhausen. Hier hat er seine prägenden Jahre verbracht.

Wenn Ludger Jochman wirklich ungestört sein will, sucht er die größtmögliche Abgeschiedenheit. Dann deckt er sich mit Proviant für eine Woche ein und fährt mit seinem Plattbodenschiff „Gaudium“ ganz alleine raus aufs Heegermeer in den Niederlanden. Nicht um Gaudi zu haben, sondern um auf sanfter Woge durchzuarbeiten. Dazu versenkt er an einer möglichst abgelegenen Stelle den Anker - und sich selbst ganz tief in seine Phantasie.

Dort trifft sich Jochmann - notfalls bis ihm das Trinkwasser ausgeht - mit der Hexe Lilli, dem Teppichpiloten Jakob oder dem pelzigen Wesen Yoko. Wenn er dann wieder an Land geht, hat er vielleicht ein neues Abenteuer entwickelt oder einen neuen Helden erfunden. Im echten Leben ist Jochmann unter seinem bürgerlichen Namen weitaus weniger bekannt als unter seinem Pseudonym: Knister. Was selbst Millionen kleine und große Fans nicht wissen: Der weltberühmte Kinderbuchautor hat seine Wurzeln in Oberhausen.

Knisters Geschichten fesseln Kinder auf der ganzen Welt

Er sei 1952 in Bottrop geboren, im Ruhrgebiet aufgewachsen und lebe in Wesel, heißt es in den Knister-Biografien. Unerwähnt bleibt dabei: Knister hat, wie er selbst sagt, seine prägenden Jahre in Oberhausen verbracht. Sein Elternhaus steht an der Sterkrader Reinersstraße, im Haus der Jugend im Marienviertel wagte er erste Schritte auf der Bühne, bei den Kurzfilmtagen schnupperte er in die internationale Filmwelt, und fürs Oberhausener Theater arbeitete er auch. Wenn er einen Kinofilm sehen will, kommt er heute noch vom Niederrhein zur Lichtburg an die Elsässer Straße. Wenn er eine kinderfreundliche Kulisse für eine Produktion mit dem WDR sucht, wählt er schon mal die Stadtbibliothek im Bert-Brecht-Haus. Er besucht die Ausstellungen im Schloss und schaut sich stets an, was im Gasometer zu sehen ist.

Knisters Geschichten fesseln Kinder auf der ganzen Welt von Norwegen bis Südafrika, von den USA bis Japan. Seine inzwischen mehr als 40 Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt und insgesamt mehr als 26 Millionen Mal verkauft. Es gibt Knister-Abenteuer längst nicht mehr nur in Buchform, sondern auch auf CD und im Internet, als Computerspiel, Hörfunk-, Fernseh- oder Theaterproduktion, im Kino und bald auch als Musical. Knister ist ein globales Phänomen. Doch wer ihn in seinem Haus im ländlichen Weseler Stadtteil Obrighoven besucht, trifft einen überaus geerdeten Mann, der wohl nie in Gefahr war, vom Erfolg beseelt auf Lillis Hexenbesen abzuheben oder mit dem ritterlichen Pferd Arabesk durchzugehen. Der statt eines Ferraris einen alten Audi oder noch lieber Fahrrad fährt - und gern und ausführlich aus seiner Oberhausener Zeit erzählt.

„Fast mein ganzes Leben verbindet mich mit Oberhausen“, sagt Knister. „Dort habe ich meine prägenden Jahre verbracht.“ Drei Jahrzehnte lebt er schon in Wesel, weil er damals an den ländlichen Rand des Ruhrgebietes wollte und sich dort, anders als in Oberhausen, ein Häuschen leisten konnte. „Doch ich bin nach wie vor eher in Oberhausen verwurzelt als in Wesel.“

Haus der Jugend war ein „Kristallisationskern“

Von seiner Geburtsstadt Bottrop hat er gerade einmal die Säuglingsstation gesehen. Dort wurde er geboren, weil sein Vater im Knappschaftskrankenhaus als Krankenpfleger arbeitete. Die Eltern lebten da bereits an der Reinersstraße. Und wie das oft ist bei Ruhrgebietskindern: „Fußball hat mein Leben bestimmt. Wir Reinersbach-Kicker haben im Bachsteg gespielt, bis Mama gepfiffen hat.“ Im Fußballverein war Ludger Jochmann nie. Doch ein Herz hat er nach wie vor für RWO. Seine drei heute erwachsenen Söhne Jakob, Jonas und Justus hat er in späteren Jahren immer mal wieder mit ins Niederrhein-Stadion genommen, aus Lokalpatriotismus. Jochmann mag Rot-Weiß wegen des Malocher-Images. „Das ist viel authentischer als bei Kloppo“, dem BVB-Trainer. Ihm gefällt, dass Präsident Hajo Sommers die Bierbecher in der Gästekurve mit dem Spruch „Scheiß RWO“ bedrucken ließ und der Traditionsverein sich damit selbst auf die Pannschüppe nahm.

Knister ging zur Postwegschule, dann auf die Friedrich-Ebert-Realschule, später aufs Käthe-Kollwitz-Berufskolleg. Als Jugendlicher zwischen 14 und 17 Jahren stieg er regelmäßig am Hagelkreuz in die Straßenbahn und später in den Bus und fuhr zum Haus der Jugend. Mitte/Ende der 60-er Jahre „war das ein Kristallisationskern in Oberhausen, wichtig für die Kultur, immer offen für Experimente, wo man etwas angstfrei ausprobieren konnte“. Hier, sagt Jochmann, der eigentlich von Kind an Musiker werden wollte und zeitweise mehr an der Gitarre übte, als sich mit Hausaufgaben zu belasten, entdeckte er den Reiz des Theaterspielens. Lieh sich mit anderen Jugendlichen Kostüme aus dem Theaterfundus, stellte sprechende Bilder auf die Bühne. Zwischen Happening und Performance luden sie zur Verwunderung des jungen, den Traditionsbruch suchenden Publikums auch mal einen Bergmannschor ein, der für eine Schüssel Kartoffelsalat und ein paar Kisten Bier das Steigerlied gab. Die Zeit im Haus der Jugend habe ihn geprägt, auch als Autor.

Weniger wegen der Mauern zwischen West und Ost überwindenden Filmkunst, sondern mehr wegen des internationalen Flairs zog es den jugendlichen Jochmann zu den Kurzfilmtagen. Dort sah er „mit großen Augen und offenem Mund staunend die linken, revolutionären Künstler. Oberhausen war New York! Ich habe damals noch nicht geahnt, dass ich mal selbst was mit Filmen zu tun haben sollte.“

"Werde doch lieber Lehrer als Künstler"

Zunächst aber drängte es Jochmann auch ohne Abitur an eine Hochschule. Er bewarb sich erfolgreich für das Fach Rhythmik an der Folkwangschule in Essen und studierte zudem Sozialpädagogik an der dortigen Universität. Musiker wollte er eigentlich werden, „am liebsten Rockmusiker“, aber nach dem Diplom verdiente er seine Brötchen zunächst als Sonderpädagoge. Seine Eltern hatten gemeint, werde doch besser Lehrer als Künstler. Da arbeitete Jochmann schon für verschiedene Kindertheater im Ruhrgebiet. Am Oberhausener „Theater im Pott“ war er zwischenzeitlich Autor und Dramaturg. Seit 1978 verdiente er sein Geld als freier Autor auch für Funk und Fernsehen.

So auch bei der „Sendung mit der Maus“ oder der „Sesamstraße“. Eigentlich sollte Jochmann für das populäre Kinderfernsehen Texte vertonen, doch weil er in diese manchmal „behutsam“ eingriff, bekam er Ärger mit den Autoren. „So einen Text schreibe ich an einem Wochenende selbst“, behauptete der Oberhausener forsch und bekam zur Antwort: „Dann probier’s doch mal.“ Gleich die drei ersten Texte wurden genommen mit der Bitte: „Mehr davon!“

Jochmann schrieb mehr davon, der Texter war gefragter als der Musiker: Hörspiele und Wortbeiträge für WDR, SDR, SWF, NDR, Rias, Deutschlandfunk und später auch Drehbücher fürs ARD- und ZDF-Kinderprogramm. Dann wollte er sich beweisen, dass er auch ein Buch schreiben kann. Den Künstlernamen Knister wählte Jochmann aus seiner Begeisterung für die Rockmusik. Stets hatte er bei seiner Arbeit mit Kindern Musik als Ausdrucksmittel genutzt. Wenn er bei Kindervorstellungen richtig laut abrockte, machte sich danach eine „knisternde“ Spannung für leisere Geschichten breit.

Es begann mit dem Sterkrader „Sockenfleisch“ 

Knisters Erstlingswerk „Bröselmann und das Steinzeit-Ei“ erschien 1980. Es geht darin um die Familie Bröselmann, die tolle Geschichten erzählen kann. Eine davon spielt in einem kleinen Dorf namens - Sterkrade. Dort, dichtet Mutter Bröselmann, sei der Vorläufer aller Würste erfunden worden: das „Sterkrader Sockenfleisch“.

Vor 300 Jahren habe der Bauer Hans Wurst Fleischstücke in einem Waschkessel zu Brei gekocht. Zufällig sei eine Socke hineingefallen und habe sich prall mit Fleischbrei gefüllt, der bei der Abkühlung aushärtete. Das Sockenfleisch war erfunden. Weil seine Familie aber bald keine Socken mehr hatte und weil niemand kalte Füße mag, füllte Hans Wurst das Fleisch in Schweinedarm - wie bald auch die Menschen in den umliegenden Dörfern, denen der Bauer das Rezept verraten hatte. Weil der harte Fleischbrei von Hans Wurst im Naturdarm ohne Socken auskam und es beim Reinbeißen durch die Pelle so schön knackte, wurde aus dem Sterkrader Sockenfleisch die „Knack-Wurst“.

Die Wurst, egal ob nun im Norden Oberhausens kreiert oder nicht, machte bekanntlich Weltkarriere - wie auch der wahre Erfinder des Sterkrader Sockenfleisches. Seinen weltweit erfolgreichsten Charakter, die Hexe Lilli, erfand Knister auf Wunsch seines Verlages. „Schreib ein Hexenbuch“, schlug er vor und ließ sich auch nicht beeindrucken von Jochmanns Entgegnung, es gebe doch schon so viele Hexen auf dem Buchmarkt.

„Wenn Du’s schreibst, wird’s lustig.“ Also erweckte Knister eine Hexe zum literarischen Leben, die gar nicht richtig hexen kann. „Lilli löst ihre Probleme niemals mit Hexerei, sondern geht die Dinge praktisch an und nutzt ihre eigene Girlpower. Magie kommt nur am Rande vor.“ Die Botschaft lautet also: Löse deine Probleme selbst. Damit steckt in Lilli ein schönes Stück Ruhrgebiets-Mentalität, transportiert ihr Erfinder quasi über seine Hexe eine Eigenschaft Oberhausener Prägung in die Welt: Zuzupacken, für sich selbst verantwortlich zu sein, das sei Teil der Sozialisation im Revier, sagt Jochmann.

Lilli wagt jetzt den Sprung nach Brasilien

Dieser Pragmatismus in Mädchengestalt „kommt weltweit gut an“, stellte Jochmann auch zu seinem eigenen Erstaunen fest, „selbst in Macho-Ländern wie Südamerika oder Spanien“. In Spanien ist Lilli unter dem Namen Kika die erfolgreichste Kinderromanfigur nach Harry Potter. Was sich Knister so erklärt: Der spanische Kinderbuchmarkt hatte während der Franco-Diktatur den antiautoritären Charakter Pipi Langstrumpf der großen schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren ausgelassen. In dieses Vakuum stieß später die Hexe Lilli. Mit ihr bediente Knister den großen Hunger nach einer starken Mädchenfigur. Über Spanien nahm Lilli Kurs auf Mittel- und Südamerika und wagt jetzt von Mexiko aus den Sprung bis nach Brasilien.

Lilli erobert die Welt, und mit ihr wurde auch Jochmann zum Vielflieger. In Indien gründete er gemeinsam mit der Stiftung Unesco die „Knister-School“, damit sich auch den Kindern dort Schultüren öffnen. Ein Euro von jedem verkauften „Arabesk“-Buch fließt in diese Schule. Als Ehrung für dieses Engagement darf er sich aktueller Träger der Goldenen Friedenstaube für Kinder- und Menschenrechte nennen. Diese Würde – initiiert von Bundespräsident a.D. Roman Herzog - wurde vor ihm dem Dalai Lama, Papst Benedikt und Michail Gorbatschow verliehen.

Als erster Autor wurde Knister in eine chinesische Schule eingeladen. Samt Aufpassern und Übersetzerin sollte er dort einen Schuljahrgang treffen - und war überrascht, dass der aus 1000 Kindern bestand. Groß ist die Begeisterung für den deutschen Autor nicht nur in China, sondern auch in Taiwan und Japan: Als Jochmann Anfang Juni auf der Buchmesse in Madrid war, stand plötzlich ein Mitarbeiter des japanischen Fernsehens vor ihm, eigens angereist, um sich neue Knister-Stoffe zu sichern.

Manchmal arbeitet er an drei Projekten gleichzeitig

So verändert der Erfolg Knisters auch das Privatleben Ludger Jochmanns. Lange griff der leidenschaftliche Rockmusiker als Mitglied der Band „Fezz“ unter anderem mit dem Sterkrader „Yesterday“-Gastronom Werner Klinkhammer in die Saiten. Mittlerweile musste er diese Hobby-Auftritte drangeben. „Ich bin international so viel unterwegs. Ich will nicht, dass die anderen sich nach mir richten müssen.“

„Kinder sind meine Zielgruppe“, sagt Knister, der unter seinem bürgerlichen Namen auch für Erwachsene publiziert hat. „Als deutscher Autor humoriger Geschichten und nicht als Krimiautor eingeladen zu werden hat mich zunächst gewundert. Es macht mich aber auch ein bisschen stolz.“ Und trotz seiner 40 Bücher bleibt Jochmann ein Vielschreiber, arbeitet zuweilen an drei Projekten gleichzeitig. Dabei strömen selbst ihm die Ideen nicht nur so aus der Feder.

Dann sitzt er zum Beispiel in seinem Arbeitszimmer unterm Dach seines Weseler Hauses an seinem Laptop, blickt aus den großen Fenstern aufs grüne Obrighoven und wartet auf die Eingebung. „Ich bleibe sitzen, bis die Idee kommt“, dauert es auch den ganzen Tag. Er habe mehrere schöne Arbeitsplätze, die er je nach Jahreszeit aufsuche. „Inspiration hole ich mir auch durch die Umgebung.“ Und wenn Jochmann wieder einmal die absolute Ruhe braucht, etwa um einen neuen Charakter zu entwickeln, dann fährt er in Friesland mit seinem Plattboot raus und geht vor Anker, notfalls bis ihm das Trinkwasser ausgeht. „Dann“, sagt er, „schaffe ich ganz viel.“