Oberhausen.
Vor allem in Bundestagswahljahren wird sie regelmäßig wiederentdeckt: die Familie. Wieder mal wird eine Kindergelderhöhung in Aussicht gestellt, werden Verbesserungen versprochen, lassen sich Politiker mit glücklichen Kindern ablichten. Sind die Wahlkampfzeiten dann vorbei, wird das Wenigste in aktive Politik umgesetzt, verpufft so manche vollmundige Ankündigung.
So hat es auch Caritasdirektor Werner Groß-Mühlenbruch, selbst Vater von vier Kindern, immer wieder empfunden. Nicht nur deshalb begrüßt er, dass die bundesweite Jahreskampagne des Wohlfahrtsverbandes in diesem Jahr einen genaueren Blick auf die reale Situation und die Probleme von Familien wirft: „Familie schaffen wir nur gemeinsam“ heißt das Motto 2013. „Und wir werden hier vor Ort genauer hingucken“, verspricht Groß-Mühlenbruch. Die NRZ traf den Caritasdirektor zum Interview..
„Bündnis für Familie“, „Kinderbüro“, „Familienbüro“, „Kinder im Mittelpunkt“, der Wettbewerb „Vorbildlich Familienfreundliches Unternehmen“ – in Oberhausen wird Familie groß geschrieben, oder?
Werner Groß-Mühlenbruch: Ja, man kann nicht sagen, dass hier nichts passiert sei in den letzten Jahren. In einzelnen Segmenten gibt’s Bewegung. Aber was ich vermisse, ist eine ganzheitliche Strategie.
Können Sie das ein bisschen konkreter fassen?
Groß-Mühlenbruch: Hier wird an vielen Stellen etwas getan. Und es gibt auch ein sehr gutes Berichtswesen: Bildungsbericht, Familienbericht, Kindergesundheitsbericht. Wir wissen also, wo’s hakt. Aber dass daraus gemeinsam abgestimmte kommunale Handlungsansätze abgeleitet werden, kann ich nicht erkennen. Die Probleme werden beschrieben, zur Kenntnis genommen, beklagt – und dann war’s das. Man müsste alle Berichte zusammennehmen und daraus eine gemeinsame Strategie für eine nachhaltige städtische Familienpolitik der nächsten Jahre entwickeln. Das Ganze muss zur Querschnittsaufgabe werden: Ressortübergreifend müssten alle Vorlagen und politischen Entscheidungen daraufhin abgeklopft werden, ob sie zur Verbesserung der Situation in den Familien beitragen – angefangen bei der Planungs- und Städtebaupolitik.
In Ihren drei Anlaufstellen für Sozialberatung, als Partner in der Ganztagsbetreuung an Grundschulen, in der Erziehungs- oder der Schuldnerberatung und anderen Diensten bekommen Sie tagtäglich mit, welche Sorgen Familien derzeit zu schaffen machen. Wie würden Sie grob umreißen, wie Familien ihre Situation heute erleben?
Groß-Mühlenbruch: Viele Eltern stehen unter Druck, fühlen sich überfordert. Häufig müssen beide arbeiten, um einen einigermaßen normalen Lebensstandard für ihre Familie hinzubekommen. Und angesichts der Tatsache, dass im Ruhrgebiet jede zweite Ehe scheitert, haben wir es auch sehr viel mit Ein-Eltern-Familien zu tun – mit häufig noch verschärften finanziellen Sorgen. Insgesamt kann man grob vier Problemlagen festhalten, die auf Familiensysteme einwirken und sich häufig gegenseitig bedingen oder verschärfen: Existenzprobleme, Erziehungsprobleme, Beziehungsprobleme und Gesundheitsprobleme.
Und die Dienste von Caritas-und anderen Wohlfahrtsverbänden sind dann die Feuerwehr?
Groß-Mühlenbruch: Wenn nötig, ja. Aber wir versuchen auch, vorbeugende Angebote zu machen. Es geht darum, Familien zu stärken, Entwicklungschancen zu fördern. Dazu muss man aber immer das Ganze im Auge haben: Kinder bringen ihre Familienprobleme mit in die Schule – und tragen die Schulprobleme mit in ihre Familien. Jedes Problem isoliert zu betrachten, wie es lange getan wurde, ergibt nicht viel Sinn. Man muss vielmehr immer das Gesamtsystem Familie im Blick haben. Dafür brauchen wir die nötigen Strukturen. Und ich bin überzeugt: Wenn man’s gemeinsam anpackt, sich über Parteigrenzen hinweg einig in der Zielsetzung ist, dann kann zum Wohle der Familien etwas bewegt werden. Ganz wichtig ist dafür eine gemeinsame Haltung – für Familien. Es darf nicht sein, dass das in parteipolitischen Scharmützeln untergeht.
Das Gespräch führte NRZ-Redakteurin Martina Nattermann