Oberhausen. .

Er ist Geschichte auf zwei Beinen, sein unglaubliches Schicksal im Zweiten Weltkrieg Vorbild für einen Spielfilm: Sally Perel ist wieder für eine Woche in der Stadt. Bereits zum elften Mal besucht der Israeli auf Einladung der Volkshochschule Oberhausen, um von seinem Leben zu erzählen. Rund 2000 Schülern wird er in dieser Zeit aus seinem Buch „Ich war Hitlerjunge Salomon“ vorlesen. Mit dem Satz „Ich bin Volksdeutscher“ rettete der Jude im Krieg sein Leben, als er in Russland in die Hände der deutschen Wehrmacht fiel. Er überlebte in der Haut des Feindes.

Herr Perel, Sie machen gerade Station in Oberhausen, danach reisen Sie kreuz und quer durch Deutschland, nach Hamburg, Wismar, Braunschweig, in ihre Geburtsstadt Peine, um Vorträge zu halten. Sie werden im April 88 Jahre alt – ist das nicht sehr anstrengend für Sie?

Sally Perel: Das ist anstrengend, ja. Aber ich nehme so viele Eindrücke mit, die mir sehr wichtig sind. Ich sehe, wie die Jugendlichen reagieren.

Wie reagieren die Jugendlichen denn – aufmerksam, zugewandt oder eher höflich, weil ein so bekannter Gast da ist?

Perel: Nein, nein, auf gar keinen Fall nur höflich. Sie sitzen von Anfang an mit offenem Mund da, jedes Wort kommt an. Viele Lehrer beneiden mich, dass ich die Schüler so im Bann halten kann. Ein Schüler hat mal zu mir gesagt: ‘Als ich hörte, es geht schon wieder um das Thema Holocaust, wollte ich gar nicht kommen. Aber danach war ich dankbar, dass ich dabei war’.

Woran liegt das, dass Sie die Schüler besser erreichen, als lange Unterrichtsreihen zum Thema Nationalsozialismus?

Perel: Ein mündlicher Zeitzeugenbericht bewirkt mehr als ein Buch. Ein Buch ist nicht mit Emotionen verbunden, ein Lehrer hat das, was er im Unterricht darstellt, nicht erlebt. Ich erzähle, als sei es erst gestern passiert und verbinde das auch mit Humor.

Zeitzeugen der Judenverfolgung im Nationalsozialismus wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Machen Sie sich Sorgen um die Überlieferung?

Perel: Ich sehe das als eine Gefahr an, irgendwann bleiben nur noch Dokumente, Filme. Und die Leugnung bestimmter historischer Tatsachen wie Ausschwitz und die Ermordung der europäischen Juden dort wird immer stärker. Auch deshalb mache ich die vielen Lesungen: Ich beauftrage die Schüler mit etwas, ich sage zu ihnen, dass sie durch das Gehörte und Erlebte jetzt auch Zeitzeugen sind und damit auch Überlieferer. Sie müssen ihren Anteil an der Aufklärungsarbeit übernehmen.

Wonach fragen die Schüler sie am häufigsten?

Perel: Zum Beispiel danach, ob ich in Israel als Verräter gesehen werde. Ob ich im Rückblick anders handeln würde. [Als Josef Perjell kämpfte Sally Perel zwei Jahre an der Front gegen die Sowjetunion, um nicht als Jude entlarvt zu werden. Danach kam er in eine Schule der Hitlerjugend. Anm. d. Redaktion] Ich habe eine Balance gefunden: Vier Jahre lang hat der Hitlerjunge mein Leben diktiert, er hatte die Kontrolle, heute ist der Israeli der dominante Teil. Ich liebe diesen Hitlerjungen, denn er hat mir das Leben gerettet. Das ist paradox, befremdlich, kompliziert. Ich hatte nur die Wahl, als Jude zu sterben oder als angeblicher Volksdeutscher zu überleben. Eine dritte Wahl hatte ich nicht. ‘Im Nachhinein kann man leicht Held sein’, habe ich mal zu jemanden in Israel gesagt, der mir mein Überleben vorgeworfen hat. Aber ich brauchte 40 Jahre, um das so objektiv zu sehen.

Sie sagen, Sie haben 40 Jahre gebraucht, um Ihr Schicksal so betrachten zu können. Wie kam es dazu?

Perel: Nach meinem Herzinfarkt und einer Herzoperation 1985 bin ich in Rente gegangen. Da hat sich die Vergangenheit gemeldet und ich habe angefangen, diese Erinnerungen aufzuschreiben, handschriftlich. Ich hatte immer einen Bogen Papier dabei und einen Bleistift. Damit ich mir direkt eine Notiz machen konnte, wenn mir zum Beispiel im Bus etwas eingefallen ist. Ich bin auch häufig nachts aufgewacht, nachts sind die Erinnerungen oft sehr klar, und habe mir ein Stichwort aufgeschrieben. Das Buch war eine Selbsttherapie, dass ich einen Weltbestseller in mir trug, ahnte ich nicht.

Gehen wir nochmal einen Schritt zurück: Wie ging es für Sie nach dem Krieg weiter?

Perel: Ich hatte kein Zuhause, keine Familie, keine Existenz mehr in Deutschland. Es war ein Problem zum normalen Leben zurückzukehren, eine solche Zeit übersteht man seelisch nicht unbeschadet. Ich bin nach Israel gegangen und habe dort im Unabhängigkeitskrieg gekämpft. Später habe ich in der Metallindustrie gearbeitet und mit meinem Bruder zusammen eine Reißverschlussfabrik geleitet – bis zu besagtem Herzinfarkt.

Sie haben sich in der israelischen Friedensbewegung engagiert...

Perel: Ja, um mich für eine gerechte Lösung des Palästina-Problems einzusetzen. Und da gibt es nur eine: Rückzug aus allen besetzten Gebieten und Anerkennung der Grenzen von 1967, mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem. Es muss zwei Länder für zwei Völker geben. Die meisten Menschen in Israel wollen das, und dann wählen sie doch Netanjahu. Im Moment ist die Friedensbewegung zerfallen. Ein wirtschaftliches Embargo von außen könnte helfen. Aber Angela Merkel ist zu obsessiv pro-israelisch.

Was war Ihr schönstes Erlebnis bei einer der Lesereisen durch Deutschland?

Perel: Ich war mal in Plön eingeladen, und als ich dort hinkam, läuteten zu meiner Ankunft die Glocken [lächelt]. Der Jude Sally Perel kommt in die Stadt und die Glocken läuten, das hat mich sehr berührt. Und es ehrt mich, dass es einen Sally-Perel-Preis für Toleranz und gegen Rechtsextremismus gibt.

Stellen Sie einen Unterschied zwischen den Jugendlichen in Deutschland und denen in Israel fest?

Perel: Der Unterschied ist: Dort sind die Enkelkinder der Opfer, hier die der Täter. Schuld ist nicht erblich, aber im Unterbewusstsein ist das bei den Zuhörern mit dabei.

Was können junge Menschen aus ihrem Leben lernen – abgesehen davon, dass Sie Zeugnis ablegen.

Perel: Ich bin so etwas wie eine kleine Enzyklopädie des 20. Jahrhunderts. Ich habe so viele Ideologien erlebt: den Nationalsozialismus, den Kommunismus, den Zionismus. Ich verstehe mich als Botschafter der Versöhnung und des Friedens. Wenn wir nicht aufpassen, können Fremdenhass und Diktatur wiederkommen.