Oberhausen. Vom Elternhaus am Altmarkt bis zum Heine-Gymnasium erzählen Hör-Stationen von bewegter Künstler-Jugend und führen bis ins afrikanische Operndorf.

Ein Denkmal hat Oberhausen für den international wohl berühmtesten Sohn der Stadt bis heute nicht zuwege gebracht. Dabei hatte sich zuletzt Kurt-Dieter Jünger als spätberufener Christoph-Schlingensief-Fan gerade dafür tüchtig ins Zeug gelegt. Sogar eine Presseschau über den Nachruhm des Oberhausener Apothekersohns, schick in Buchform und LP-Format, hatte der nun 70-Jährige eigens aufgelegt. Das Engagement zeigt jetzt Wirkung – allerdings anders als zunächst beabsichtigt.

Zur Dokumentation aus dem Laufen-Verlag gab‘s auch eine Lesung aus den Erinnerungen des Filmemachers, Theaterregisseurs und Kunst-Aktionisten (1960 bis 2010). Und Klaus Zwick vom Ensemble des Theaters Oberhausen hatte dafür eine treffliche Auswahl getroffen. „Die Texte waren witzig und pointiert, vieles aus Schlingensiefs Jugendzeit“, sagt Rainer Piecha. Als Aktivposten des Literaturhaus-Vereins ließ ihn der Gedanke nicht mehr los: Nach Ralf Rothmann mit der ihm gewidmeten, kurzweiligen „Overhausen“-Audiotour sollte es auch den Sound des Kunst-Revoluzzers aus Alt-Oberhausen für einen ausgedehnten Innenstadt-Spaziergang geben. Der nimmt nun konkrete Formen und ein ordentliches Gardemaß an: In 90 Minuten legen die Audio-Walker rund dreieinhalb Kilometer zu acht (oder neun) Hör-Stationen zurück.

Das Elternhaus von Christoph Schlingensief an der Stöckmannstraße in Höhe des Altmarktes. Hier war auch die „Industrie-Apotheke“ seines Vaters Hermann Josef Schlingensief.
Das Elternhaus von Christoph Schlingensief an der Stöckmannstraße in Höhe des Altmarktes. Hier war auch die „Industrie-Apotheke“ seines Vaters Hermann Josef Schlingensief. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Die autobiografischen Texte sind ausgewählt; noch vor den sommerlichen Theaterferien wollen Franziska Roth und, versteht sich, Klaus Zwick, die Blütenlese aus den Bänden „Ich weiß, ich war‘s“ und „So schön wie hier kann‘s im Himmel gar nicht sein“ im Tonstudio des Theaters aufnehmen. Zwar soll die Audiotour vom Elternhaus am Altmarkt bis zum Heine-Gymnasium und retour erst im kommenden Frühjahr 2025 eröffnen – dennoch drängt die Zeit.

Kunstaktion von Christoph Schlingensief: den urlaubenden Kanzler so richtig nass machen

Das liegt an der etwas verzwickten Vorgeschichte, für die das Literaturhaus nach verworfenem Plan A und B bis zu Plan C durchhalten musste. Als Antragsteller für die Förderung firmiert nun das Literaturgebiet Ruhr. Kürzlich gab‘s auch das Okay für die Landesmittel, allerdings verbunden mit durchaus sportlichen Fristen.

Doch Rainer Piecha erkannte: „Jetzt gibt es auch in Oberhausen eine gewisse Offenheit“ – nämlich für das Andenken an jenes durchaus umstrittene „Enfant terrible“, das einst sogar mit tausenden Arbeitslosen den Wolfgangsee überschwappen lassen wollte, um den dort urlaubenden Kanzler Helmut Kohl so richtig nass zu machen. Dieser Coup scheiterte zwar – doch etliche andere, nicht minder waghalsige Anliegen machte der Oberhausener Provokations-Künstler unglaublicherweise wahr.

Rainer Piecha (v.l.) und seine Vorstands-Kollegen vom Literaturhaus-Verein, Hartmut Kowsky-Kawelke und Harald Obendiek, im literarischen Souterrain des Gdanska am Oberhausener Altmarkt.
Rainer Piecha (v.l.) und seine Vorstands-Kollegen vom Literaturhaus-Verein, Hartmut Kowsky-Kawelke und Harald Obendiek, im literarischen Souterrain des Gdanska am Oberhausener Altmarkt. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

„Wir starten natürlich an der Industrie-Apotheke,“ versichert Rainer Piecha. Die schlichte Tafel am benachbarten Hauseingang hatte noch Anni Schlingensief im Andenken an ihren Sohn in Auftrag gegeben: „In diesem Haus wohnte von 1960 bis 2010 der Film- und Opernregisseur Prof. Christoph Schlingensief“ – als hätte der Allround-Künstler nie etliche Lebensjahre außerhalb Oberhausens verbracht. Die wichtigste autobiografische Quelle für die Texte der Audiotour ist „Ich weiß, ich war‘s“, posthum im Oktober 2012 erschienen. Christoph Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz hatte die skizzenhaften Erinnerungstexte herausgegeben.

Herz-Jesu-Kirche in Oberhausen: Wirkungsstätte des jungen Messdieners Schlingensief

Wenige Schritte sind‘s quer über den Altmarkt zur Herz-Jesu-Kirche, der Wirkungsstätte des jungen Messdieners. Als er mit 47 Jahren von seiner Lungenkrebs-Erkrankung erfuhr, nahm der Regisseur exakt das Kirchenschiff von Herz Jesu zum Modell für sein Oratorium „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, uraufgeführt im September 2008 in der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord. Der Kritiker der Hamburger „Zeit“ sah darin bereits „ein Requiem, ein Fegefeuer, in dem auch die Eitelkeiten eines Provokationskünstlers verbrennen“.

Als „Fluxus-Oratorium“ beschrieb Christoph Schlingensief „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“: Seine Produktion für die Ruhrtriennale 2008 nimmt engen Bezug zur Alt-Oberhausener Herz-Jesu-Kirche.
Als „Fluxus-Oratorium“ beschrieb Christoph Schlingensief „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“: Seine Produktion für die Ruhrtriennale 2008 nimmt engen Bezug zur Alt-Oberhausener Herz-Jesu-Kirche. © bildbuehne.de | David Baltzer

Mit der dritten Station folgen die Audio-Spaziergänger der cineastischen Prägung des enthusiastischen Filmemachers: „Rio“ hieß das bevorzugte Kino des Jugendlichen, heute ist‘s das frisch eingerichtete Café „Makai“ an der Elsässer Straße, direkt neben Oberhausens verbliebenem innerstädtischem Filmpalast, der Lichtburg. Von dort geht‘s zu zwei eher symbolischen Stationen, denn das Rathaus mit seinem schmuck wiederhergestellten Ratssaal steht, so erklärt‘s Rainer Piecha, für den „politischen Kopf“ Schlingensief, der allzu gerne den bräsigen Betrieb der Kohl-Kanzlerjahre aufstörte.

Damals fand er Theater doof. Er hat sich erst später selbst bekehrt.
Rainer Piecha - Vorstand des Literaturhaus-Vereins

„100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“ hieß denn auch 1993 Schlingensiefs erste Theater-Inszenierung für die Berliner Volksbühne. Elf Jahre später sollte er sogar den „Parsifal“ für die Bayreuther Wagner-Festspiele ins Bild setzen. Doch ob er als Jugendlicher überhaupt mal das Theater Oberhausen besucht hat, ist nicht überliefert. „Damals fand er Theater doof“, so Rainer Piecha. „Er hat sich erst später selbst bekehrt.“

Ein Oberhausener in New York: In Sachen Kunst-Provokation war Christoph Schlingensief auch Weltreisender. Szene aus der filmischen Biografie „In das Schweigen hineinschreien“ seiner langjährigen Editorin Bettina Böhler.
Ein Oberhausener in New York: In Sachen Kunst-Provokation war Christoph Schlingensief auch Weltreisender. Szene aus der filmischen Biografie „In das Schweigen hineinschreien“ seiner langjährigen Editorin Bettina Böhler. © Filmgalerie 451 | Handout

Für die Audio-Station am Heinrich-Heine-Gymnasium verspricht der Literaturhäusler als Hörgenuss „einen wunderschönen Schulaufsatz: Was ich einmal werden möchte“. Den Berufswunsch Regisseur quittierte sein damaliger Lehrer mit größter Skepsis. Dem „Heine“ soll dennoch bei der Audiotour eine doppelte Ehre zukommen: Denn dort residierte in den 1970ern auch die „Filmothek der Jugend“, begründet von den Internationalen Kurzfilmtagen. Unter deren Fittichen konnte der Gymnasiast Schlingensief sein Film-Faible ausleben, seine Erinnerungen an diese Zeit sprühen „voller Lokalkolorit“.

Beigesetzt in der Nähe von Hegel, Brecht und Johannes Rau

„Vom schäbbigen Rand der Innenstadt“, wie der Liricher Piecha einräumt, soll die Audio-Expedition dann auf kürzestem Weg zur Marktstraße zurückführen: Deren multikulturelles Flair assoziieren die Literaturhäusler mit Schlingensiefs afrikanischem Operndorf als weiterer Station, ergänzt um ein kurzes Video. Als logische „Endstation“ dient schließlich die nach langer, teils possenhafter Debatte im Jahr 2012 umbenannte Christoph-Schlingensief-Straße.

Ende einer lokalpolitischen Posse. Sei 2012 ist die Pacellistraße in Oberhausen umbenannt in Christoph-Schlingensief-Straße.
Ende einer lokalpolitischen Posse. Sei 2012 ist die Pacellistraße in Oberhausen umbenannt in Christoph-Schlingensief-Straße. © dpa | Caroline Seidel

Beigesetzt ist der bekannteste Oberhausener auf Berlins Dorotheenstädtischem Friedhof, also in nächster Nähe klassischer Geistesgrößen wie Hegel und Fichte, aber auch von Bertolt Brecht – und Johannes Rau, einem ganz anderen rheinischen „Menschenfischer“.