Oberhausen. Die quirligen „Spielkinder“ mit Lina Beckmann und Charly Hübner führen über den Tackenberg: in sechs Hör-Szenen aus den Sterkrade-Romanen.

Dieses sonntägliche Schauspiel dürfte entlang der alten Siedlungshäuser für verdutzte Gesichter sorgen: Mit der Uraufführung von „Overhausen“ (kein Tippfehler!) schlängelt sich eine halbe Hundertschaft von der Schule am Siedlerweg durchs herbe Idyll des Tackenbergs bis zum „Siedlerkrug“. Denn mit Ohrstöpseln und Smartphones erleben dann die Liebhaber bester Revier-Literatur an sechs Stationen Ausschnitte aus den Sterkrade-Romanen Ralf Rothmanns.

Ein ganzes Jahr der Vorbereitung investierten die „Spielkinder“ – also die Geschwister Lina, Nils, Maja und Till Beckmann, sowie Charly Hübner und Jennifer Ewert – in dieses kongeniale Projekt des Literaturhauses Oberhausen und des Literaturgebiets Ruhr. Und Till Beckmann scheint vor gespannter Vorfreude schier zu bersten: Die jüngste Probetour jedenfalls geleitete die Tackenberg-unerfahrene Designerin Britta Wagner als Testerin punktgenau durchs Revier der Rothmann-Romane.

Wegweiser nach „Overhausen“ (v.li.) Hartmut Kowsky-Kawelke, Uta Graßhoff, Till Beckmann und Ronja Kokott vom Literaturgebiet Ruhr.
Wegweiser nach „Overhausen“ (v.li.) Hartmut Kowsky-Kawelke, Uta Graßhoff, Till Beckmann und Ronja Kokott vom Literaturgebiet Ruhr. © FUNKE Foto Services | Oliver Mueller

Till Beckmann war mit seinem Bruder Nils erstmals am Tackenberg gewesen, als beide am Drehbuch für „Junges Licht“ arbeiteten, der souveränen Filmerzählung von Adolf Winkelmann: „Mit den Texten im Kopf durch dieses Zwischending aus Stadt und Land zu gehen“, so der Co-Autor der Audiotour, „war ein ganz intensives Erlebnis“. Beim wenige Jahre später gegründeten Literaturhaus Oberhausen hatte das „Spielkind“ dann die sprichwörtlichen „offenen Türen“ eingerannt – und sich prompt der Expertise von Rainer Piecha versichert.

Vieles blieb 50 Jahre unverändert

Der Literaturhaus-Vorständler gestaltet schließlich die beliebten „Literadtouren“: Und er lieferte einen präzisen Abgleich des literarischen und des gegenwärtigen Tackenbergs. „Welcher Kiosk an welcher Ecke stand“, sagt Rainer Piecha vergnügt, „ist aus den Romanen direkt nachvollziehbar“. Und der Literaturhaus-Vorsitzende Hartmut Kowsky-Kawelke, selbst großgeworden in jenem Quartier, das teils zu Sterkrade, teils zu Osterfeld gehört, weiß: „Manches hat sich in 50 Jahren nicht geändert.“

Romancier Ralf Rothmann, hier während einer seiner raren Lesungen im Herner Literaturhaus.
Romancier Ralf Rothmann, hier während einer seiner raren Lesungen im Herner Literaturhaus. © FFS | Sabrina Didschuneit

Mit ihrem Rothmann-Programm „Groß, größer, am kleinsten“ hatten die Spielkinder – in Gestalt von Lina Beckmann – die aktuelle „Schauspielerin des Jahres“ bereits ins prallvolle Gdanska geholt. Doch „Overhausen“ ist nicht einfach ein „Best of“ dieses gefeierten Abends, obwohl die beiden hochvergnüglichen Stunden am Altmarkt auch aufgezeichnet wurden. Nein, alle sechs Hörstationen wurden mit dem liebevollen Aufwand, den wahre Fans eben betreiben, neu ausgewählt und eingerichtet.

In die bewegte Dichter-Jugend katapultiert

So hört der Flaneur auf Ralf Rothmanns frühen Wegen vor der St. Jakobus-Kirche das Original-Glockengeläut, eigens aufgenommen von Produzent Sebastian Maier, zur Beichtszene aus „Junges Licht“. Die Kneipenszene an der Hörstation „Siedlerkrug“ ist ein delikates Hörspiel-Praliné aus Gläserklirren, Musikfetzen und einem mit mehreren Dialekten aufwartenden Charly Hübner.

Der Romancier war beeindruckt. „Ich neige voller Respekt mein Haupt“, schrieb der 69-jährige Ralf Rothmann aus Berlin den beglückten Spielkindern, nachdem ihn die zugesandten Audiodateien in seine bewegte Jugend katapultiert hatten – „war aber nach dem Hören doch froh, endlich erwachsen zu sein“. Dass der große Erzähler, der in diesem Jahr als aktuellsten Roman „Die Nacht unterm Schnee“ vorgelegt hat, sich in „Overhausen“ rar macht, konnten bisher auch die Avancen des Literaturhauses nicht ändern.

Die zweite Audiotour ist bereits in Arbeit

Doch das herbe Flair dieser Stadt, „die nicht gerade vor Schönheit blüht“, wie Hartmut Kowsky-Kawelke einräumt, soll an den vielzitierten „Originalschauplätzen“ erlebbar sein. Und so betont denn auch Till Beckmann: „Man kommt nur vor Ort an die Sound-Dateien.“ Ein gutes Stündchen ist man mit Ralf Rothmann und den Spielkindern am Tackenberg unterwegs – die reine Wegstrecke wäre in 20 Minuten absolviert. Doch das ist erst der erste Streich.

Staunen in der Zechensiedlung: Kolonie, Kirche und Kneipe werden zu „Originalschauplätzen“ einer Audiotour-Trilogie.
Staunen in der Zechensiedlung: Kolonie, Kirche und Kneipe werden zu „Originalschauplätzen“ einer Audiotour-Trilogie. © FFS | Hans Blossey

Im Herner Tonstudio ist von der zweiten Audiotour der Spielkinder „schon viel im Kasten“, so Till Beckmann. „Wir tüfteln noch an der Wegeführung.“ Für die dritte Rothmann-Route schließlich wird man sich am besten aufs Rad schwingen – denn die soll bis zur Halde Haniel führen. „Da brauchen wir dann Stelen“, ahnt der Literaturhaus-Vorsitzende. In der Reviernatur fehlen halt die Hauswände, um die violetten Wegweiser und QR-Codes anzubringen.

„Specials“ für den Premieren-Spaziergang

Für den Premieren-Spaziergang „Overhausen“ auf den Spuren der Sterkrade-Romane am Sonntag, 16. Oktober, von 15 bis 17 Uhr gibt’s bereits etliche Anmeldungen (per Mail an literaturhaus-oberhausen@gmx.de). Die Teilnahme ist kostenlos.

Die anschließende Feier steigt natürlich an der Endstation „Siedlerkrug“, Schwarzwaldstraße 30. Till Beckmann verspricht für diesen Nachmittag „ein paar Specials“: Der Schlagzeuger Simon Camatta wird unterwegs in der Kirche trommeln. Und Karikaturist Günter Rückert, zugleich Regisseur der Dortmunder „Geierabende“, zeichnet in der Kneipe sowohl die Gäste als auch Rothmanns Roman-Personal.