Essen. Vor zehn Jahren starb der Aktionskünstler Christoph Schlingensief. Der neue Kino-Dokumentarfilm „In das Schweigen hineinschreien“ erinnert an ihn.

Christoph Schlingensief hat gern erzählt, dass seine Eltern sich eigentlich sechs Kinder gewünscht hätten, er aber doch das einzige geblieben sei und sich verpflichtet gefühlt habe, die fehlenden fünf zu ersetzen. Und mindestens drei davon seien etwas aufsässig. Es wäre nicht die schlechteste Erklärung dafür, dass Schlingensief, als er im August vor zehn Jahren mit gerade einmal 49 seinem Lungenkrebsleiden erlag, ein Werk geschaffen hatte, für das andere mindestens zwei Leben bräuchten. Er war ein Aktionskünstler. Nicht zufällig, aber nur vorübergehend hatte er sich in den ersten Jahrzehnten seines Lebens den Film als Plattform für seine kindlich-unbefangene Freude an der Verstörung, an der Provokation, an der politischen Eulenspiegelei ausgesucht. Als Bühnen sollten im Laufe der Zeit noch das Theater, die Oper, die Kunst, das Fernsehen und zuletzt die praktische Entwicklungshilfe hinzukommen.

Christoph Schlingensief war ein Kunst-Charismatiker wie es sonst im Nachkriegsdeutschland wohl nur noch Joseph Beuys war. Und die zehn Jahre ohne ihn haben klar werden lassen: Einen wie ihn gibt es nicht mehr, einer wie er fehlt dieser Republik, die eigentlich von niemandem mehr in ihrer selbstzufriedenen Betriebsamkeit aufgeschreckt wird – wie Schlingensief es unweigerlich getan hätte.

„Mini-Portionen von Gift“ und die Liebe zu Tilda Swinton

Sein Vater habe ja auch „die Menschen mit Mini-Portionen von Gift geheilt“, sagt Schlingensief mit Blick auf seine eigenen Provokationen in dem zweistündigen Dokumentarfilm „In das Schweigen hineinschreien“, der in dieser Woche in unsere Kinos kommt. Er lässt die wichtigsten Stationen im Leben des Filme- und Bewusstseinsmachers Revue passieren, mit frühen Super-8-Familienaufnahmen und Ausschnitten aus den ersten Spielfilmen des Zehnjährigen. Mit Szenen aus und Kommentaren zu vielen seiner zahllosen Filme, Aktionen, Inszenierungen. Immer wieder erklärt Schlingensief sich selbst, erzählt von der Blitzeinschlag-Liebe mit Tilda Swinton, von seinem Ersatz-Vater Alfred Edel und wie er Wim Wenders angerufen hat, um sich bei dem in Venedig die Unterstützung für ein Studium an der Münchner Filmhochschule zu verschaffen, das er am Ende nie bekommen hat. Seine Hochschule wurde dann die Mülheimer Film-Legende Werner Nekes.

„Parsifal“ in Bayreuth und das Operndorf, das Aino Laberenz betreut

Der Film setzt ein mit den Proben zu Schlingensiefs Inszenierung für die Ruhrtriennale in der Gebläsehalle des Duisburger Landschaftsparks 2008 für die Ruhrtriennale: „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, für die 2011 postum den Golden Löwen der Biennale in Venedig bekam. In diesem „Fluxus-Requiem“, das zu einer Art von künstlerischem Vermächtnis wurde, zog Schlingensief so blank wie nie zuvor. Er ließ alle Welt wissen von seiner Angst vor dem Tumor in ihm – und wie ihn diese Angst dazu trieb, an die Grenzen der Kunst und darüber hinauszugehen. Wie schon 2004, als er in Bayreuth ausgerechnet Wagners Erlösungs-Oper „Parsifal“ inszenierte, einmal mehr über seine Kräfte hinausgehend: „Das göttliche Prinzip“, ist Schlingensief damals aufgegangen, „ist das der Unerlösbarkeit.“ Dagegen rannte er mit der „Kirche der Angst“ noch einmal an, genau wie er es mit seinem letzten, immer noch unvollendeten, aber weit vorangeschrittenen Projekt eines Operndorfs für Afrika unternahm, für das sich nun seine Witwe Aino Laberenz einsetzt: Eine Schule ist dort längst in Betrieb, auch andere Gebäude sind entstanden – und das Opernhaus in der Mitte soll gebaut werden, wenn das Geld dafür zusammengekommen ist.

Auf der Gedenktafel an der Apotheke seiner Eltern am Oberhausener Altmarkt steht, er habe von 1960 bis 2010 dort gewohnt. Seine Mutter wollte das so. Wahr daran ist, dass Schlingensief ein Leben lang angetrieben war von seiner Kindheit.